Bundesrat will Geräuschbelästigung drastisch verringern
Biker protestieren gegen Fahrverbote

München — Biker-Protest in München: Rund 10.000 Mo­tor­rad­fah­rer de­mon­strie­ren mit ei­nem Korso auf dem Mitt­le­ren Ring. Trotz De­mon­stra­tions­ver­bots zeigt die mo­to­ri­sier­te Zwei­rad­ge­mein­de fried­lich ih­re Ab­leh­nung der Ent­schlie­ßung des Bun­des­ra­tes „zur wirk­sa­men Min­de­rung und Kon­trol­le von Mo­tor­rad­lärm“. Pro­tes­tiert wird auch in an­de­ren Groß­städ­ten. Denn geht es nach der Län­der­kam­mer, sol­len für Biker über­all zeit­lich be­schränk­te Fahr­ver­bo­te an Sonn- und Feier­ta­gen gel­ten kön­nen. Und die Ent­schlie­ßung vom 15. Mai sieht noch mehr vor: et­wa „den Um­stieg auf nach­hal­ti­ge und lärm­ar­me Mo­bi­li­tät in Form von lärm­ar­men Mo­tor­rä­dern mit al­ter­na­ti­ven An­triebs­tech­ni­ken wie den Elek­tro­an­trieb“. Da­ge­gen wächst der Wi­der­stand. So wen­det sich die On­line-Pe­ti­tion „Kei­ne Fahr­ver­bo­te für Mo­tor­rä­der an Sonn- und Feier­ta­gen“ ge­gen Ver­all­ge­mei­ne­rung und Ein­sei­tig­keit. Rund 200.000 Un­ter­stüt­zer hat sie. Nun be­geh­ren auch pro­mi­nen­te baye­ri­sche Lan­des- und Bun­des­po­li­ti­ker auf.

Wegweiser

Biker protestieren

Erstes Juliwochenende in Hamburg, Schwerin, Düsseldorf, Wiesbaden, Dresden, Stuttgart und München: Je­weils bis zu zehn­tau­send Biker ma­chen ih­rem Un­mut mit Mo­tor­rad­kor­sos Luft. An­lass ist ei­ne Ent­schlie­ßung des Bun­des­ra­tes mit­ten in der ⭲ Corona-Krise. Die­ser will den Lärm von Mo­tor­rä­dern un­ter an­de­rem durch „Ge­schwin­dig­keits­be­schrän­kun­gen und zeit­lich be­schränk­te Ver­kehrs­ver­bo­te an Sonn- und Feier­ta­gen“ ver­rin­gern. Mo­tor­rä­der mit al­ter­na­ti­ven An­triebs­tech­ni­ken wie bei­spiels­wei­se Elek­tro­an­trieb sol­len von mög­li­chen Ver­kehrs­ver­bo­ten aus­ge­nom­men wer­den. Die Bun­des­rats­ini­tia­ti­ve sieht zu­dem här­te­re Stra­fen für das Tuning von Mo­tor­rä­dern vor, wenn die Fol­ge ei­ne ⭲ er­heb­li­che Lärm­stei­ge­rung ist. Po­li­zis­ten sol­len Fahr­zeu­ge bei gra­vie­ren­den Lärm­über­schrei­tun­gen so­fort si­cher­stel­len oder an Ort und Stel­le be­schlag­nah­men kön­nen.

Haupttreiber der Initiative sind das grün-schwarz re­gier­te Ba­den-Würt­tem­berg und das schwarz-gel­be Nord­rhein-West­fa­len. Da­ge­gen hat be­reits An­fang Ju­li ei­ne drei­köp­fi­ge De­le­ga­tion der Ini­tia­ti­ve „Biker for Freedom (BifF)“ ei­ne Pe­ti­tion mit knapp 191.000 Un­ter­schrif­ten vor­ge­legt. Adres­sat: Winfried Hermann, Ba­den-Würt­tem­bergs Mi­nis­ter für Ver­kehr im Ka­bi­nett Kretschmann II und selbst Be­sit­zer ei­nes Mo­tor­rad­füh­rer­scheins. Te­nor: Die vor­han­de­nen Ge­set­ze und Re­geln seien aus­rei­chend, ⭲ ge­tunt wür­den auch Au­tos, Ein­zel­fäl­le soll­ten nicht ver­all­ge­mei­nert wer­den. Jetzt de­mon­strie­ren die Biker zu­sätz­lich.

Entschließung des Bundesrates

Konkret formuliert der Bundesrat in sei­ner zehn Punk­te um­fas­sen­den Ent­schlie­ßung „zur wirk­sa­men Min­de­rung und Kon­trol­le von Mo­tor­rad­lärm“ die Ab­sicht, die In­ter­es­sen von An­woh­nern ei­ner­seits und von Mo­tor­rad­fah­rern an­de­rer­seits „in ei­nen fai­ren Aus­gleich zu brin­gen“: Für vie­le An­woh­ner be­deu­te das Frei­zeit­ver­gnü­gen der Mo­tor­rad­fah­rer ei­ne Lärm­be­läs­ti­gung, wenn die­se die Ge­schwin­dig­keits­be­gren­zung über­schrit­ten oder mit „ex­tra­laut ge­tun­ten Mo­tor­rä­dern“ un­ter­wegs seien. Da­her müss­ten der Lärm ver­min­dert und die Ver­kehrs­si­cher­heit er­höht werden.

Der Bundesrat bittet erstens die Bun­des­re­gie­rung da­rum, sich bei der EU-Kom­mis­sion für stren­ge­re Lärm­emis­sions­wer­te ein­zu­set­zen. Dies soll durch schär­fe­re EU-Grenz­wer­te bei der Ge­neh­mi­gung und Zu­las­sung neuer Mo­tor­rä­der er­fol­gen. Die Län­der­kam­mer schlägt hier­bei ei­ne Be­gren­zung der Ge­räusch­emis­sio­nen in al­len Fahr­zu­stän­den (Real Driving Sound Emissions) auf ei­nen Grenz­wert von ma­xi­mal 80 dB(A) vor. Die­ser sei von al­len Neu­fahr­zeu­gen über al­le Be­triebs­zu­stän­de hin­weg ein­zu­hal­ten. Zwei­tens sol­len die Stra­fen bei Ma­ni­pu­la­tio­nen am Aus­puff, Luft­fil­ter so­wie bei sons­ti­gen Ein­grif­fen, die ei­ne er­heb­li­che Stei­ge­rung der Lärm­emis­sio­nen zur Fol­ge ha­ben, deut­lich ver­schärft wer­den. Da­zu soll die Bun­des­re­gie­rung „ein recht­lich si­che­res In­stru­ment“ ent­wi­ckeln, das den Po­li­zei­be­hör­den der Län­der bei gra­vie­ren­den Über­schrei­tun­gen der Lärm­emis­sio­nen die so­for­ti­ge Si­cher­stel­lung oder Be­schlag­nah­me des Fahr­zeugs ermöglicht.

Die Bundesregierung wird drittens da­rum ge­be­ten, Mo­tor­rad­fah­rer via Kam­pag­ne für ei­ne an­ge­mes­se­ne Fahr­wei­se zu sen­si­bi­li­sie­ren. Vier­tens wird sie da­zu auf­ge­for­dert, Mo­tor­steue­run­gen zu ver­bie­ten, die in­di­vi­duell vom Mo­tor­rad­fah­rer ein­stell­ba­re „Sound­ku­lis­sen“ er­mög­li­chen und stö­ren­de, be­läs­ti­gen­de Ge­räu­sche er­zeu­gen kön­nen. „Sound-Design“ sei viel­mehr zur Min­de­rung der Lärm­emis­sio­nen zu nut­zen. Der Bun­des­rat bit­tet die Bun­des­re­gie­rung fünf­tens um Un­ter­stüt­zung für den Um­stieg auf nach­hal­ti­ge und lärm­ar­me Mo­bi­li­tät mit­tels al­ter­na­ti­ver An­triebs­tech­ni­ken wie den Elek­tro­an­trieb. Außer­dem sol­len sechs­tens wirk­sa­me Mess­ver­fah­ren ein­ge­setzt wer­den, um die recht­li­chen, tech­ni­schen und per­so­nel­len Kon­troll­mög­lich­kei­ten bei of­fen­sicht­lich über­lau­ten Mo­tor­rä­dern auszuweiten.

Der Bundesrat sieht siebtens „drin­gen­den Hand­lungs­be­darf“, aus Grün­den des Lärm­schut­zes für be­son­de­re Kon­flikt­fäl­le Ge­schwin­dig­keits­be­schrän­kun­gen und zeit­lich be­schränk­te Ver­kehrs­ver­bo­te an Sonn- und Feier­ta­gen zu er­mög­li­chen. Hier­für soll die Bun­des­re­gie­rung die ein­schlä­gi­gen Re­ge­lun­gen an­pas­sen. Mo­tor­rä­der mit al­ter­na­ti­ven An­triebs­tech­ni­ken soll­ten hin­ge­gen von mög­li­chen Ver­kehrs­ver­bo­ten aus­ge­nom­men wer­den. Ach­tens wird die Bun­des­re­gie­rung auf­ge­for­dert, ei­ne Lö­sung zu fin­den, da­mit „Raser“ oder „Be­läs­ti­ger“ kei­ner Stra­fe ent­ge­hen könn­ten: Mo­tor­rad­fah­rer könn­ten bis­lang we­gen der Helm­pflicht und auf­grund feh­len­den Front­kenn­zei­chens nicht iden­ti­fi­ziert werden.

Neuntens bittet der Bundesrat die Bun­des­re­gie­rung um ei­ne Re­ge­lung zur un­mit­tel­ba­ren Haf­tung, bei der das Schuld­prin­zip nicht zur An­wen­dung kommt (Hal­ter­haf­tung). Und zehn­tens wird die Bun­des­re­gie­rung auf­ge­for­dert, Fahr­ten­bü­cher ver­pflich­tend ein­zu­füh­ren: „Ein Fahr­ten­buch dient der Sen­si­bi­li­sie­rung und Da­ten­ge­win­nung, um bei mehr­fa­chen Ver­stö­ßen von ein­zel­nen Mo­tor­rad­fah­rern rea­gie­ren zu kön­nen.“

Befürworter und Gegner

Die Bundesregierung muss entscheiden, ob und wann sie die Bun­des­rats­ini­tia­ti­ve um­setzt. Zu­stim­mung kommt in­des von ge­plag­ten An­woh­nern und Um­welt­ver­bän­den. So be­klagt et­wa die On­line-Pe­ti­tion „Fahr­ver­bot für Mo­tor­rä­der an Wo­chen­en­den und Feier­ta­gen“ auf www.openpetition.de Laut­stär­ke und Ge­stank. Die Pe­ti­tion hat über 100 Be­für­wor­ter. Der ge­mein­nüt­zi­ge Um­welt­ver­band „VCD Ver­kehrs­club Deutsch­land e. V.“ kri­ti­siert so­gar die Bi­ker-Pro­tes­te als De­mon­stra­tion für Ver­kehrs­lärm.

Demgegenüber sehen sich die Biker durch die Ent­schlie­ßung dis­kri­mi­niert: Für die Ver­stö­ße von we­ni­gen wür­den al­le Mo­tor­rad­fah­rer be­straft, for­mu­liert die On­li­ne-Pe­ti­tion „Kei­ne Fahr­ver­bo­te für Mo­tor­rä­der an Sonn- und Feier­ta­gen“ auf www.openpetition.de. Die Gleich­be­hand­lung al­ler Ver­kehrs­teil­neh­mer sei ge­fähr­det. „Wenn am Bike al­les tech­nisch und StVZO-kon­form ist, die Ver­si­che­rung und Kraft­fahr­zeug­steuern be­zahlt sind, soll­te es dem Fah­rer frei­ste­hen, fah­ren zu dür­fen, wann und wo er möch­te“, er­klärt Pe­tent Heiko Schmidt. Ein Fahr­ver­bot be­tref­fe zu­dem Fahr­schu­len, Händ­ler, Werk­stät­ten, Cam­ping­plät­ze, Im­biss­bu­den, Gast­stät­ten und Ho­tels, ver­nich­te Ar­beits­plät­ze. Über­dies nutz­ten vie­le ihr Mo­tor­rad als Haupt­be­för­de­rungsmittel.

Unterstützung kommt nun aus der Bayerischen Staats­re­gie­rung: Ver­ständ­nis äu­ßert et­wa Dr. Florian Herrmann (CSU), Lei­ter der Baye­ri­schen Staats­kanz­lei und baye­ri­scher Staats­mi­nis­ter für Bun­des- und Eu­ro­pa­an­ge­le­gen­hei­ten und Me­dien: Die Bi­ker wür­den mit ih­ren Pro­tes­ten „bei uns so­zu­sa­gen in Bayern bei der Staats­re­gie­rung of­fe­ne Tü­ren ein­fah­ren“. Herrmann kün­digt in­di­rekt den Wi­der­stand der CSU an – so­wohl durch die im Bun­des­tag ver­tre­te­nen Ab­ge­ord­ne­ten, als auch vom Par­tei­vor­sit­zen­den Dr. Markus Söder als Mit­glied des Koa­li­tions­aus­schus­ses.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), selbst Mo­tor­rad­fah­rer, flan­kiert: „Al­le Mo­tor­rad­fah­rer über ei­nen Kamm zu sche­ren, ist über­zo­gen. Das Fehl­ver­hal­ten Ein­zel­ner darf nicht zu­las­ten al­ler Mo­tor­rad­fah­rer ge­hen.“ Statt pau­scha­ler Ver­bo­te sei es viel wir­kungs­vol­ler, Lärm­rü­pel und Kra­wall­ma­cher bei Kon­trol­len ge­zielt aus dem Ver­kehr zu zie­hen. Andreas Scheuer (CSU), Bun­des­mi­nis­ter für Ver­kehr und di­gi­ta­le In­fra­struk­tur im Ka­bi­nett Merkel IV, wen­det sich eben­falls ge­gen die Ver­schär­fun­gen, will die Emp­feh­lun­gen der Bun­des­län­der nicht um­set­zen: „Die Bi­ker zei­gen bei den Pro­tes­ten ih­re Hal­tung ge­gen Ver­schär­fun­gen und Ver­bo­te. Das ist auch mei­ne Haltung“, sagt Scheuer. 


Erstveröffentlichung

Print: Ro­sen­hei­mer blick, Inn­ta­ler blick, Mang­fall­ta­ler blick, Was­ser­bur­ger blick, 33. Jg., Nr. 28/2020, Sams­tag, 11. Ju­li 2020, S. 1f., Ko­lum­ne „Leit­ar­ti­kel“ (Kurz­fas­sung) [9+166/3/2/2+2; ein Car­toon]; Inn-Salz­ach blick, 12. Jg., Nr. 28/2020, Sams­tag, 11. Ju­li 2020, S. 1f., Ko­lum­ne „Leit­ar­ti­kel“ (Kurz­fas­sung) [9+166/3/2/2+2; ein Car­toon].
Online: ⭱ blick-punkt.com, Mitt­woch, 8. Ju­li 2020; ⭱ E-Paper Ro­sen­hei­mer blick, ⭱ E-Paper Inn­ta­ler blick, ⭱ E-Paper Mang­fall­ta­ler blick, ⭱ E-Paper Was­ser­bur­ger blick, ⭱ E-Paper Inn-Salz­ach blick, Sams­tag, 11. Ju­li 2020. Stand: Neu­jahr, 1. Ja­nu­ar 2024.
 

Dr. Olaf Konstantin Krueger M.A.

Digitaljournalist – Digitalpolitiker