Debatte zum Grundeinkommen
Existenz sichern oder Erwerbslosigkeit verwalten?
Berlin — Globalisierung, Digitalisierung und Robotisierung rütteln an den Grundfesten der Sozial- und Wirtschaftssysteme. In der Debatte über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft und des Sozialstaates wird zunehmend über ein bedingungslos gewährtes Grundeinkommen für jedermann gesprochen: Jeder soll unabhängig von seiner individuellen wirtschaftlichen Lage ohne Gegenleistung eine gesetzlich festgelegte, für alle gleiche und vom Staat ausgezahlte finanzielle Zuwendung erhalten. Befürworter stellen das Ende des Arbeitszwangs aus schierer Notwendigkeit in Aussicht. Kritiker warnen vor einem Absinken der Arbeitsmotivation bei Geringverdienern. Die finnische Regierung testet derzeit in der Praxis, welche Annahme zutrifft.
Wegweiser
Erprobung eines Grundeinkommens
Seit Jahresbeginn erprobt die rechtsliberale finnische Regierung, ob ein Grundeinkommen das Sozialsystem vereinfachen und mehr Menschen in Jobs bringen kann: 2000 zufällig ausgewählte Arbeitslose zwischen 25 und 58 Jahren erhalten zwei Jahre lang monatlich 560 Euro, wobei die Probanden abzugsfrei Geld hinzu verdienen können. Ein ambitionierteres Vorhaben hingegen, jedem erwachsenen Schweizer unabhängig von seiner Einkommenssituation eine monatliche Zahlung von 2500 Franken – umgerechnet 2.250 Euro – zu eröffnen, lehnten die Eidgenossen noch Mitte 2015 in einer Volksabstimmung mit einer überwältigenden Mehrheit von 78 Prozent ab. Hauptgrund: Zweifel an der Finanzierbarkeit.
Die wiederum in Deutschland debattierten Vorschläge sehen eine monatliche Transferleistung vor in Höhe des Sozialhilfesatzes, des Arbeitslosengeldes II – auch ⭲ „Hartz IV“ genannt –, oder oberhalb der Armutsgrenze. Deren Schwellenwert lag 2015 für eine allein stehende Person bei einem monatlichen Einkommen von 979 Euro, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.056 Euro im Monat. 16,7 Prozent der Menschen waren danach in 2015 von Armut bedroht.
Umbrüche in der Arbeitswelt
Hintergrund der aktuellen Debatte ist die umfassende dynamische digitale Transformation. Sie beschleunigt die Wirkungen der Globalisierung, verschlankt zusätzlich die Wertschöpfungsketten, erhöht nochmals die Produktivität, verändert Geschäftsmodelle, weicht zudem die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit auf und dezimiert letztlich die erforderliche fachkundige menschliche Arbeit. Obendrein beflügeln sich die verschiedenen technischen Fortschritte gegenseitig. Dabei erfasst die Digitalisierung selbst komplexe und kreative Tätigkeiten, die bislang dem Menschen vorbehalten schienen.
Der Einsatz intelligenter und vernetzter Roboter stellt indes herkömmliche Berufsfelder infrage und lässt den Zustand der amtlichen de facto-Vollbeschäftigung in Deutschland fragil erscheinen: Viele Arbeitnehmer werden sich umorientieren und neue Beschäftigungen suchen müssen. Zugleich kommen neue flexible Formen der Erwerbstätigkeit auf, wächst die Nachfrage nach Arbeit auf Abruf: Die neue „Gig Economy“ kennt keine dauerhaft abhängig Beschäftigten, sondern vergibt projektbezogen auf virtuellen Plattformen weltweit Aufträge an selbstständige Crowdworker, die ihrerseits viele Jobs erledigen. Crowdworking hat zugleich das Potenzial, das herkömmliche System der sozialen Sicherung auszuhöhlen.
Nicht nur Geringqualifizierte mit Routinejobs sind von den Umbrüchen betroffen. Millionen hoch qualifizierte Beschäftigte mit gut bezahlten Arbeitsplätzen werden in den kommenden Jahren von der smarten Automatisierung erfasst. Die Mittelschicht droht zu schrumpfen und zu verarmen, weshalb die soziale Schlüsselfrage lautet, ob Menschen weiterhin nur dann würdig existieren können, wenn sie von Erwerbsarbeit leben. Bereits jetzt sind viele Erwerbsbiografien gebrochen, wankt das auf Solidarität fußende Rentensystem, wird das Phänomen der Altersarmut offen debattiert.
Begründungen für Grundeinkommen
Ein bedingungsloses Grundeinkommen unterscheidet sich von den existierenden staatlich organisierten Grund- und Mindestsicherungen mit bestimmten Sanktionsmechanismen im Wesentlichen dadurch, dass es jedermann ohne Bedürftigkeitsprüfung und Gegenleistung sowie unabhängig vom sonstigen Einkommen rechtlich garantiert würde. Zugleich entfielen alle allgemeinen steuer- und abgabenfinanzierten Sozialleistungen. Zur Finanzierung des Grundeinkommens sehen rund 50 verschiedene Modelle diverse Vereinfachungen und Neuordnungen des Steuersystems vor, grob einteilbar in drei Ansätze, die entweder eine Besteuerung des Einkommens, des Konsums oder der natürlichen Ressourcen im Blick haben.
Wenn Armut, ein Gefühl der Entrechtung und der Machtlosigkeit einen gewissen Kipppunkt erreichen, wird zerstörerisches Handeln oft zum letzten Ausweg.
Prof. Dr. Dr. Klaus Schwab, Gründer und Vorstandsvorsitzender des Weltwirtschaftsforums
Schwab, Klaus; Malleret, Thierry: COVID-19: Der große Umbruch, Genf: Weltwirtschaftsforum, 2020,
Fassung 1.0, S. 98; ISBN 978-2-940631-19-3
Begründet wird die Notwendigkeit eines Grundeinkommens sowohl mit humanitären als auch mit ökonomischen Argumenten. Dem humanitären Ansatz zufolge ermögliche ein vom Erwerbseinkommen unabhängiges Grundeinkommen ein menschenwürdiges Leben sowie gesellschaftliche und politische Teilhabe, sorge für einen Ausgleich zwischen entlohnter Arbeit und sozialen Tätigkeiten, beende die Stigmatisierung Erwerbsloser und gestalte den Arbeitsmarkt attraktiver. Dem ökonomischen Ansatz zufolge federte ein gesichertes Existenzminimum Rationalisierungsprozesse ab, verringere prekäre Beschäftigungsverhältnisse, senke die Arbeitslosenzahl und reduziere Aufwände im Sozialsystem.
Kritiker disqualifizieren das Konzept als unhaltbares Versprechen und Anreiz zu verstärkter Migration. Bemerkenswert aber ist, dass die Debatte über die sozialpolitischen Veränderungen über kleine Zirkel hinaus geht: Namhafte Unternehmer und Wissenschaftler, Parteien und Stiftungen setzen sich inzwischen mit den Konsequenzen von Globalisierung, Digitalisierung und Robotisierung auseinander, berechnen ihre Modelle und suchen nach Konzepten für den Sozialstaat von morgen. Die Studie der finnischen Regierung dürfte hierfür ein wichtiger Fingerzeig sein. ✻
Erstveröffentlichung
Print: Rosenheimer blick, Inntaler blick, Mangfalltaler blick, Wasserburger blick, 30. Jg., Nr. 6/2017, Samstag, 11. Februar 2017, S. 1f., Kolumne „Leitartikel“; Inn-Salzach blick, 9. Jg., Nr. 6/2017, Samstag, 11. Februar 2017, S. 1f., Kolumne „Leitartikel“ [189/3/–/8].
Online: ⭱ blick-punkt.com, Donnerstag, 9. Februar 2017; ⭱ E-Paper Rosenheimer blick, ⭱ E-Paper Inntaler blick, ⭱ E-Paper Mangfalltaler blick, ⭱ E-Paper Wasserburger blick, ⭱ E-Paper Inn-Salzach blick, Samstag, 11. Februar 2017. Stand: Neujahr, 1. Januar 2024.