Waldkraiburger erfindet elektrisch angetriebene Gehhilfe
Paul: „Überzeugende Mobilität der Neuzeit“
Waldkraiburg — Für die einen ist es ein markanter E-Rollator, für das Deutsche Patent- und Markenamt eine „Kopplungsvorrichtung und mobile Geh-Hilfe zum Ankoppeln eines selbstbalancierenden Fahrzeugs“. Sein heute 78-jähriger Erfinder Karl Paul nennt das Gerät schlicht „eine elektrisch angetriebene Gehhilfe zur Behebung von Gehbehinderungen mit der Besonderheit, dass aufrecht darauf gefahren wird“. In Waldkraiburg ist der aus dem Allgäu stammende kreative Freigeist jedenfalls bekannt wie „Daniel Düsentrieb“, Entenhausens berühmter Erfinder. Doch im Gegensatz zur genialen Comicfigur der Walt Disney Company testet Paul seine Erfindungen ausgiebig, bis sie ausgereift sind. Und so düst Paul täglich auf seiner robusten Gehhilfe durch die Stadt, auf der Ablage begleitet von seinem treuen Hund Moritz. Immer wieder wird der rüstige Rentner auf die Neuheit der selbstfahrenden Gehhilfe angesprochen – was der Elektromotor leiste, was sie koste, ob er sie verkaufe. Doch der erfahrene Steinmetzmeister legt mehr Wert auf die Verbesserung des Bestehenden als auf die Vermarktung seiner alltagstauglichen Geräte. Begegnung mit einem scharfsinnigen Verstand.
Wegweiser
Steinmetz – Praktiker – Tüftler
In den 1970er- und 1990er-Jahren war die Porträt-Show „Das ist Ihr Leben“ im TV ein Publikumsmagnet: Die Moderatoren Carlheinz Hollmann und Dieter Thomas Heck beschrieben Prominenten ihr bisheriges Leben. Vorbild war das US-amerikanische und britische Format „This Is Your Life“. Solche Sendungen sind auch für Menschen wünschenswert, die unser aller Leben verändern, doch das Rampenlicht meiden. Menschen wie Karl Paul.
Rückblick. Als der agile Steinmetzmeister aus Waldkraiburg 2011 für seinen patentierten Transportroller mit Elektroantrieb auf der Handwerksmesse in München mit dem Bayerischen Staatspreis ausgezeichnet werden soll, scheut er zunächst die große Bühne. Dabei erleichtert seine Erfindung insbesondere Steinmetzen das Leben enorm: Seine „revolutionäre Sackkarre“ mit zwei Hubzylindern hievt auf Knopfdruck bis zu einer Tonne wiegende Steine und transportiert sie mit Leichtigkeit – eine Schwerstarbeit, für die die Muskelkraft mehrerer Männer erforderlich ist. Knapp zwei Jahre hatte der Praktiker getüftelt, ehe das Gerät seinen Anforderungen entsprach und vom TÜV abgenommen wurde. Genauso lange dauerte die Patentanmeldung. Nun folgen Vorstellungen auf Fachmessen in München, Frankfurt/Main, Nürnberg und Verona, die Serienfertigung in Österreich. Paul ist überwältigt vom Zuspruch, pflegt jedoch weiter das Understatement.
Paul widmet sich E-Rollatoren
So lange der scharfsinnige 78-Jährige zurückdenken kann, spürte er die Leidenschaft, Technik zu optimieren. So entstanden über die Jahre unterschiedliche Neuerungen, beispielsweise ein Treppenlift für die aufwändige Montage von Treppenabsätzen aus Stein oder bauliche Konstruktionen, die selbst Architekten verblüffen. Dass Leidenschaft auch Leiden schafft, hat der Erfinder im Leben ebenfalls erfahren: Hochnäsige Akademiker etwa bezweifelten seine Aussagen so lange, bis der „kreative Freigeist mit ausgeprägtem Hang gegen Obrigkeit“ sie ihnen bewies. Doch seine Selbstsicherheit führte auch zu mancher Freundschaft.
„Das könnte ich besser machen“, dachte Paul auch, als er begann, sich mit Rollatoren zu befassen. Das Prinzip selbst ist alt. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Holzstöcke und Krücken für Gehbehinderte mit Rollen ausgestattet. Anfang des 20. Jahrhunderts erhielten Menschen mit größeren Beeinträchtigungen vierrädrige Rollwagen. In den 1950er-Jahren entwickelte und vertrieb der norwegische Ingenieur Per Arne Tønseth den ersten modernen Rollator. In den 1970er-Jahren zunächst in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen eingesetzt, wurden in den 1980er-Jahren leichtere und faltbare Modelle alltäglich. In den 1990er-Jahren erhielten Rollatoren ergonomische Griffe, Bremsen und Einkaufskörbe und ab den 2000er-Jahren erweiterten elektrisch betriebene Rollatoren den Aktionsradius für Menschen mit starker Mobilitätseinschränkung. Allerdings kosten faltbare Elektrorollatoren immer noch rund 2.500 Euro, Wandergeräte mit E-Antrieb das Doppelte. Und bei all diesen Geräten ist eines geblieben: die Notwendigkeit zu gehen. Im Unterschied dazu wird auf der elektrisch angetriebenen Gehhilfe von Paul aufrechtstehend gefahren: „Eine längst verloren geglaubte Mobilität kehrt zurück“, so Paul.
Gehhilfe – Rollator – E-Rollator
Die gebräuchlichsten Gehhilfen sind: Gehgestelle, die von Menschen mit einer Beeinträchtigung des Gleichgewichts oder Schwäche in den Beinen verwendet werden, Stützstöcke, die dem Nutzer bedingt Halt bieten, Kniegehstöcke, die das Knie und den Unterarm des Nutzers stützen sowie elektrisch betriebene Rollatoren, deren Motor das Gehen erleichtern soll. Die gebräuchlichsten Typen unter den E-Rollatoren sind: Frontantriebsrollatoren mit guter Manövrierbarkeit in Innenräumen sowie Heckantriebsrollatoren für den Einsatz im Freien. Laut Paul dienen alle aber nur dazu, das Gehen zu unterstützen.
Paul tüftelte rund zehn Jahre an einer straßentauglichen Gehhilfe, kombinierte verschiedene Stützgestänge mit unterschiedlichen Rädern und Radgrößen. Erst das zehnte Modell ist „final“: Die stabile Gehhilfe mit Ablage und Bremshebeln hat ein elektrisch betriebenes, zweispuriges Rollbrett (Hoverboard), auf dem sich eine Person stehend fortbewegen kann. Materialkosten im Einzelhandel grob überschlagen: 150 Euro für den Leichtgewichtrollator, 150 Euro für das Hoverboard. Mitte 2020 erhält Paul das Patent für seine „Kopplungsvorrichtung und mobile Geh-Hilfe zum Ankoppeln eines selbstbalancierenden Fahrzeugs“.
Seitdem nutzt er die Gehhilfe erfolgreich. Die Akku-Ladezeit beträgt zwei Stunden, mit einer Ladung kann er zwei Stunden stehend fahren und so Waldkraiburg umrunden. Auf der Straße fährt er versicherungsfrei mit 6 km/h. „Ich bin die Attraktion“, freut sich Paul, der ohne E-Mail und Internet auskommt. Seine Gehhilfe sei eine „alternative Mobilität der Neuzeit“. Herkömmliche Rollatoren verleiteten zur Trägheit, sein Modell dagegen animiere zu geistiger und körperlicher Tätigkeit. Doch eine Serienanfertigung sieht der Erfinder nicht: Der Zuspruch könnte ihn überwältigen. ✻
Erstveröffentlichung
Print: Inn-Salzach blick, 15. Jg., Nr. 20/2024, Samstag, 18. Mai 2024, S. 1f., Kolumne „Leitartikel“ [11+194/3/2/2; zwei Fotos].
Online: ⭱ blick-punkt.com, Montag, 13. Mai 2024; ⭱ E-Paper Inn-Salzach blick, Samstag, 18. Mai 2024.
Publikationsverzeichnis: ⭲ Index 2024.