Digitalpolitik: konsolidiert – proaktiv – sozial
Krueger: „Grundrechte verteidigen – Digitalisierung humanisieren“

Kolbermoor — Die oberbayerischen PIRATEN entern zwölf Wo­chen vor der Wahl zum 20. Deut­schen Bun­des­tag den Mareissaal in Kolbermoor: Die Piratenpartei Deutschland ver­an­stal­tet den Be­zirks­par­tei­tag Ober­bayern 2021.1 und den Kreis­par­tei­tag Rosenheim 2021.1, wählt ih­re Vor­stän­de neu und be­rei­tet den Bun­des­tags­wahl­kampf vor. In mei­ner Funk­tion als Po­li­ti­scher Ge­schäfts­füh­rer in Rosenheim er­läu­te­re ich in ei­nem Gruß­wort an die ober­baye­ri­schen Mit­glie­der und Funk­tions­trä­ger die in der Corona-Krise ein­ge­lei­te­ten Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen, schil­de­re den punk­tu­ell for­cier­ten Di­gi­ta­li­sie­rungs­schub und ap­pel­lie­re an die di­gi­tal-kom­pe­ten­te Zi­vil­ge­sell­schaft, au­to­ri­tä­ren Be­stre­bun­gen ent­ge­gen­zu­tre­ten so­wie wei­ter für ei­ne kon­so­li­dier­te, pro­ak­ti­ve und so­zia­le Di­gi­tal­po­li­tik ein­zu­ste­hen. Der Titel: „Di­gi­tal­po­li­tik: kon­so­li­diert – pro­ak­tiv – sozial. Grund­rech­te ver­tei­di­gen – Di­gi­ta­li­sie­rung humanisieren“.

Wegweiser

1. Einführung

Ahoi PIRATEN, werte Parteifreunde, sehr geehrte Gäste, geschätzte Medien­ver­tre­ter! Der Kreis­ver­band Stadt und Land­kreis Rosenheim der Piraten­par­tei Deutsch­land freut sich, Sie nach 2014 und 2019 er­neut in Kolbermoor be­grü­ßen zu kön­nen – dies­mal zum ⭲ Be­zirks­par­tei­tag Oberbayern 2021.1 und an­schlie­ßend zum Kreis­par­tei­tag Rosenheim 2021.1. Im Nachgang zum hybriden Bundesparteitag fin­den die­se bei­den Par­tei­ta­ge wie­der ana­log statt. Da­bei sind die be­hörd­lich vor­ge­schrie­be­nen Maß­nah­men zur Ein­däm­mung der Ver­brei­tung des ⭲ neu­ar­ti­gen Coronavirus’ (SARS-CoV-2) im­ple­men­tiert. Das re­gio­na­le In­fek­tions­ge­sche­hen ist laut Ge­sund­heits­amt Rosenheim seit ei­nem Monat rück­läu­fig: in der kreis­freien Stadt seit 6. Mai, im Land­kreis Rosenheim seit 11. Mai. Die 7-Tage-Inzidenz (7-TI) von 50 wird ge­mäß Sta­tis­tik des Robert Koch-In­sti­tuts (RKI) in der Stadt seit 24. Mai und im Land­kreis seit 26. Mai un­ter­schrit­ten. Ein­stel­lig sind die Wer­te der 7-TI in der Stadt seit 18. Ju­ni, im Land­kreis seit 24. Juni.

Zu den Parteitagen: Wir dis­ku­tie­ren ers­tens die Tä­tig­keits- und Re­chen­schafts­be­rich­te 2019–2021 der am­tie­ren­den Vor­stän­de, be­fin­den zwei­tens im Blick zu­rück über die Par­tei­ar­beit wäh­rend der Corona-Krise 2020/2021 und wäh­len drit­tens mit Blick voraus den 15. Be­zirks­vor­stand und den ach­ten Kreis­vor­stand für das Wahl­jahr 2021 und die Amts­perio­den 2021/2022. Ein Dank geht an die Generalsekretäre der Piraten­par­tei, an die Netz­wer­ker in der PiratenIT und an die Re­dak­teu­re der PIRATEN-Pub­li­ka­tion „Fla­schen­post“. Zu den ak­tu­el­len po­li­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen ein paar ein­lei­ten­de Worte.

2. Corona-Krise bewältigen – Grundrechte verteidigen

Der 3. Juli 2021 ist ein bedeutsames Datum für die Ge­samt­par­tei: Der aus­tra­li­sche Jour­na­list und Mit­be­grün­der von Wikileaks, Julian Paul Assange, be­geht sei­nen 50. Ge­burts­tag. Ne­ben dem US-ame­ri­ka­ni­schen Whistle­blo­wer und ehe­ma­li­gen CIA-Mit­ar­bei­ter Edward Snowden ist Assange we­gen sei­ner Ent­hül­lun­gen qua­si ei­ne di­gi­tal­po­li­ti­sche Ikone. Aus dem Ein­satz bei­der für Mei­nungs­frei­heit, Trans­pa­renz und Netz­si­cher­heit speist sich die Ab­wehr­hal­tung der di­gi­tal-kom­pe­ten­ten Zi­vil­ge­sell­schaft ge­gen­über ge­heim­dienst­li­chen Über­wa­chungs- und Spio­na­ge­prak­ti­ken so­wie po­li­ti­schen Zen­sur­be­stre­bun­gen im In­ter­net. In die­sem Sin­ne be­tont denn auch das Grund­satz­pro­gramm der Piraten­par­tei Deutsch­land Ge­wal­ten­tei­lung und Bür­ger­rech­te, ge­sell­schaft­li­che Teil­ha­be und si­che­re Exis­tenz, in­for­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung und In­for­ma­tions­frei­heit, ethi­sche Neu­tra­li­tät und Ideo­lo­gie­frei­heit der Wis­sen­schaft so­wie den Whistleblowerschutz.

Doch was noch abwegig erschien in den hit­zig ge­führ­ten De­bat­ten

das erfolgte in der Corona-Krise 2020 be­mer­kens­wert widerstandsarm.

Hauptsächlich gestützt auf umstrittene PCR-Tests und ad­mi­nis­tra­tiv fest­ge­leg­te In­zi­denz­wer­te hat die Exe­ku­ti­ve auf bis­lang bei­spiel­lo­se Wei­se ele­men­ta­re Bür­ger­rech­te über No­vel­len des In­fek­tions­schutz­ge­set­zes (IfSG) ein­ge­schränkt. Über­dies rührt das mit­tels § 28b IfSG au­to­ma­ti­sier­te Durch­re­gie­ren des Bun­des in die Kom­mu­nen an den Grund­fes­ten des Fö­de­ra­lis­mus. Oh­ne Be­rück­sich­ti­gung des Par­la­ments­vor­be­halts be­rat­schlagt und be­schließt ein ver­fas­sungs­recht­lich un­be­kann­tes Gre­mium aus Mi­nis­ter­prä­si­den­ten und Bun­des­kanz­le­rin das stets al­ter­na­tiv­lo­se Vor­ge­hen. Die Zu­stim­mung von Bun­des­tag und Bun­des­rat ist auf­grund der Mehr­heits­ver­hält­nis­se Form­sa­che, die Hal­tung des Bun­des­prä­si­den­ten elo­quent. Und ob­wohl die am 16. April be­schlos­se­ne „Bundes-Notbremse“ – kon­kret: das Vier­te Ge­setz zum Schutz der Be­völ­ke­rung bei ei­ner epi­de­mi­schen La­ge von na­tio­na­ler Trag­weite – bis zum 30. Ju­ni be­fris­tet war, plä­die­ren so­wohl der Städte- und Ge­mein­de­bund als auch der Städte­tag für de­ren Re­ak­ti­vie­rung, so­bald die In­zi­den­zen er­neut stei­gen. Nur der Land­kreis­tag be­zwei­felt die Taug­lich­keit ei­nes Bun­des­ge­set­zes als pass­ge­naue Lö­sung für höchst un­ter­schied­li­che Si­tua­tio­nen vor Ort.

Während der Autoritarismus um sich greift, sich Notstandsgesetze verbreiten
und wir unsere Rechte opfern, berauben wir uns auch unserer Möglichkeit,
das Abrutschen in eine weniger liberale und weniger freie Welt aufzuhalten.
Edward Joseph „Ed“ Snowden, US-amerikanischer Whistleblower und ehemaliger CIA-Mitarbeiter,
23. März 2021 (CPH:DOX)

Im Zentrum der politischen, juristischen und wirtschaftlichen Debatte steht da­mit wei­ter­hin die Fra­ge, in­wie­weit die staat­li­che Schutz­pflicht für Le­ben und kör­per­li­che Un­ver­sehrt­heit in an­de­re ⭲ Grund­rech­te ein­grei­fen kann, wenn die Frei­heits­rech­te doch in al­len Le­bens­la­gen nur ge­rin­ge Be­schrän­kun­gen zulassen.

Fakt ist: War das hoheitliche Corona-Krisenmanagement zunächst von in­di­vi­du­el­len Ein­griffs­maß­nah­men wie ⭲ Hygiene- und Ab­stands­vor­schrif­ten be­stimmt, so las­sen die all­ge­mei­nen Be­schrän­kun­gen seit dem ers­ten Lockdown ⭲ kaum ei­nen grund­rechts­ge­schütz­ten Be­reich un­an­ge­tas­tet. So sind fol­gen­de im Grund­ge­setz (GG) fest­ge­schrie­be­ne Grund­rech­te be­trof­fen oder be­schränkt:

  • die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt zur Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG),
  • das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG),
  • das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG),
  • die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG),
  • die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG),
  • die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG),
  • der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG),
  • die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG),
  • die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG),
  • die Freizügigkeit (Art. 11 GG),
  • die Freiheit der Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 GG) sowie
  • die Gewährleistung von Eigentum (Art. 14 GG).

Während nun Juristen darüber streiten, in­wie­fern die­se tief­grei­fen­den Ein­schrän­kun­gen noch im Ein­klang mit dem Über­maß­ver­bot (Art. 20 Abs. 3 GG) ste­hen und das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt (BVerfG) kei­ne ein­zi­ge Haupt­sa­che­ent­schei­dung be­züg­lich der Lockdowns ge­trof­fen hat, ha­ben die bis­lang 15 Mo­na­te der Frei­heits­be­schrän­kun­gen schon zweier­lei be­wirkt: ei­ner­seits ir­re­ver­sib­le (psy­cho-)so­zia­le, kul­tu­rel­le und wirt­schaft­li­che ⭲ „Kol­la­te­ral­schä­den“, an­de­rer­seits ei­nen ab­sur­den ⭲ Recht­fer­ti­gungs­druck bei der Wahr­neh­mung grund­recht­lich ge­schütz­ter Freiheiten.

So vermischt sich gerade in der ⭲ Impf-Frage die Sphä­re des Pri­va­ten mit je­ner des Öf­fent­li­chen. Ein Bei­spiel da­für ist der medien­wirk­sa­me Dis­put in die­ser Wo­che zwi­schen Mi­nis­ter­prä­si­dent Dr. Markus Söder (CSU) und Hubert Aiwanger (Freie Wähler), Staats­mi­nis­ter für Wirt­schaft, Lan­des­ent­wick­lung und Ener­gie. Vor dem Hin­ter­grund, dass na­he­zu al­le Ka­bi­netts­mit­glie­der außer ihm ge­impft seien, hat Aiwanger ver­deut­licht, die Imp­fung sei ei­ne per­sön­li­che Ent­schei­dung und öf­fent­li­cher Druck unangemessen.

Dabei sollten doch vielmehr die Grundrechtseingriffe mit zu­neh­men­der Dauer und bes­se­rem wis­sen­schaft­li­chen Er­kennt­nis­stand über die Be­grün­dun­gen der „epi­de­mi­sche La­ge von na­tio­na­ler Trag­wei­te“ deut­lich hö­he­ren Recht­fer­ti­gungs­an­for­de­run­gen aus­ge­setzt sein. Statt­des­sen be­fin­den sich die po­li­ti­schen Haupt­ak­teu­re an­ge­sichts im­mer neuer Virus-Va­rian­ten in ei­nem pa­ni­schen Über­bie­tungs­wett­be­werb bei For­de­run­gen nach dras­ti­sche­ren Ein­grif­fen in die Frei­heits­rech­te. So mein­te noch letz­te Wo­che Baden-Württembergs Mi­nis­ter­prä­si­dent Winfried Kretschmann (Bünd­nis 90/DIE GRÜ­NEN), har­ten Ein­grif­fen in die Bür­ger­frei­hei­ten und wei­te­ren Grund­ge­setz­än­de­run­gen das Wort re­den zu kön­nen. Kretschmanns evi­dent ver­fas­sungs­wi­dri­ger Vor­stoß für ein Re­gime­wech­sel ist zwar kri­ti­siert wor­den und der Bünd­nis­grü­ne da­nach zu­rück­ge­ru­dert, doch das Bei­spiel zeigt, wie wich­tig das Ein­tre­ten für die Bür­ger­rech­te mittlerweile ist.

Kretschmann aber vorzuwerfen, er schmä­le­re das Ver­trauen in die Corona-Maß­nah­men, ist wohl­feil ob der Reihe bun­des­po­li­tisch be­deut­sa­mer Skan­da­le und Fehl­ent­schei­dun­gen im bis­he­ri­gen Kri­sen­ma­na­ge­ment. Ei­ni­ge Beispiele:

  • „Hartz IV-Skandal“ – Tafel-Schließungen, Hauptzeitpunkt April 2020,
  • Betrugsfälle bei Corona-Subventionen, Mai 2020,
  • „Corona-Panne“ in Bayern – Rück­tritts­an­ge­bot von Melanie Huml, MdL (CSU), Baye­ri­sche Staats­mi­nis­te­rin für Ge­sund­heit und Pfle­ge im Ka­bi­nett Söder II, an Mi­nis­ter­prä­si­dent Dr. Markus Söder, MdL (CSU), we­gen miss­glück­ter Corona-Tests von Rei­se­rück­keh­rern, Au­gust 2020,
  • Ungenauigkeit von PCR-Tests, Oktober 2020,
  • Auszahlungsverzögerung bei Corona-Hilfen, De­zem­ber 2020,
  • „Candy Crush-Eklat“ – Clubhouse-Statement von Thüringens Mi­nis­ter­prä­si­dent Bodo Ramelow, MdL (DIE LINKE), Ja­nu­ar 2021,
  • „Impfstoff-Ärger“ – Logistikdesaster, März 2021,
  • „Corona-Maskensumpf“ – hohe Pro­vi­sio­nen für Ge­schäf­te mit Corona-Schutz­mas­ken, März 2021,
  • Konzeptlosigkeit für den SORMAS-Einsatz – Roll-Out der Soft­ware für Ge­sund­heits­äm­ter, März 2021,
  • „Datenschutz-Skandal bei Corona-Tests“, April 2021,
  • „Abrechnungsskandal in Corona-Testzentren“, Ju­ni 2021, und
  • „Intensivbettenskandal“ – fußend auf einem Bericht des Bun­des­rech­nungs­hofs (BRH), Juni 2021.

Kurz: ⭲ Gesundheitsschutz rechtfertigt nicht jedweden Freiheitseingriff, wie der ehe­ma­li­ge Prä­si­dent des BVerfG Prof. em. Dr. Dres.h.c. Hans-Jürgen Papier betont. Frei­heits­be­schrän­kun­gen sind nur so weit und so­lan­ge zu­läs­sig, wie sie ver­hält­nis­mä­ßig sind, das heißt, ge­eig­net, er­for­der­lich und angemessen.

3. Corona-Krise als Beschleuniger der digitalen Transformation

Fakt ist: Lockdowns verursachen mannigfache ⭲ „Kollateralschäden“. Al­lein die durch Ab­stands- und Hy­gie­ne­re­geln, Mas­ken­pflicht, Social Distancing-Ge­bot, Qua­ran­tä­ne-Maß­nah­men, Aus­gangs­sper­ren und Rei­se­ver­bo­te be­wirk­ten Ver­wer­fun­gen wis­sen­schaft­lich zu ana­ly­sie­ren bö­te Raum für ei­ne Rei­he in­ter­dis­zi­pli­nä­rer Studien.

Zutreffend ist aber auch eine andere Beobachtung: Die Corona-Krise be­schleu­nigt Au­to­ma­tion, Ro­bo­te­ri­sie­rung und Di­gi­ta­li­sie­rung. Sie ist Ka­ta­ly­sa­tor für die Durch­set­zung vor­han­de­ner In­for­ma­tions- und Kom­mu­ni­ka­tions­tech­no­lo­gien so­wie von Kon­zep­ten wie Remote Working, ⭲ Homeoffice, Homeschooling und Online-Shopping.

Die Industrie-Roboter befinden sich in einer Pole-Position, wenn es darum geht,
die traditionelle Produktion mit ‚Digitalstrategien’ zu verbinden.
Dr. Susanne Bieller, Ge­ne­ral­se­kre­tä­rin der International Federation of Robotics (IFR), 17. Fe­bru­ar 2021

Laut einer Studie von Bitkom Research im Auftrag der Initiative „Digital für alle“ sind jetzt di­gi­ta­le Tech­no­lo­gien für 90 Pro­zent der re­prä­sen­ta­tiv Be­frag­ten nicht mehr weg­zu­den­ken. Ih­nen wird in fast al­len Le­bens­be­rei­chen gro­ße Be­deu­tung bei­ge­mes­sen. Und ge­mäß ei­ner in die­ser Wo­che ver­öf­fent­lich­ten Stu­die der DAK-Ge­sund­heit wol­len neun von zehn Home­office-Be­schäf­tig­te in Bayern auch nach dem Ende der ge­setz­li­chen Pflicht min­des­tens ein Vier­tel ih­rer Zeit zu Hau­se ar­bei­ten. Be­acht­lich: Der Er­he­bung zu­fol­ge wa­ren wäh­rend der zwei­ten Wel­le rund 40 Pro­zent der Be­schäf­tig­ten in Bayern im Home­office – „bei ho­her Ar­beits­zu­frie­den­heit und Produktivität“.

Vor diesem Hintergrund ist die dies­wö­chi­ge Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen der Bun­des­ver­ei­ni­gung der Deut­schen Ar­beit­ge­ber­ver­bän­de (BDA) und dem Deut­schen Ge­werk­schafts­bund (DGB) um ei­ne Re­gu­lie­rung von Home­office und mo­bi­lem Ar­bei­ten aus di­gi­tal­po­li­ti­scher Sicht zwin­gend – un­ab­hän­gig da­von, ob am En­de tat­säch­lich ein Rechts­an­spruch mit an­ge­mes­se­nem Ar­beits­schutz und zu­sätz­li­cher Mit­be­stim­mung steht.

Die algorithmengesteuerte Aufmerksamkeitsökonomie im Netz
zementiert Teilöffentlichkeiten, befördert Hass und Desinformation
und polarisiert unsere Gesellschaften.
Dr. Wolfgang Schäuble, MdB (CDU), Prä­si­dent des Deut­schen Bun­des­ta­ges, 10. Mai 2021 (dpa/A3E08D)

Womöglich ist die Digitalisierung aber auch Weg­be­rei­ter für Mas­sen­über­wa­chungs- und Scoring-Me­tho­den wie sie bis­lang nur aus au­to­ri­tä­ren Kon­tex­ten be­kannt sind. So hat das Bun­des­mi­nis­te­rium für Bil­dung und For­schung (BMBF) die­se Wo­che die Stu­die „Zu­kunft von Wert­vor­stel­lun­gen der Men­schen in un­se­rem Land“ vor­ge­stellt. Die Stu­die lei­tet auf der Grund­la­ge von Wert­vor­stel­lun­gen sechs Sze­na­rien für die 2030‍er-Jah­re ab. Dar­un­ter ist ein „Bo­nus-Sys­tem“, an­hand des­sen Staat und po­li­ti­sche In­sti­tu­tio­nen be­stimm­te Zie­le über An­rei­ze zur Ver­hal­tens­än­de­rung ver­wirk­li­chen. Je­des In­di­vi­du­um wird ein­deu­tig iden­ti­fi­zier­bar, sei­ne Ab­sich­ten prog­nos­ti­zier­bar, sei­ne Hand­lun­gen transparent.

Kurz: Ein digitales, partizipativ ausverhandeltes Punktesystem über­nimmt ei­ne zen­tra­le po­li­tisch-ge­sell­schaft­li­che Prog­no­se- und Steue­rungs­funk­tion. Über das Sam­meln von Punk­ten – bei­spiels­wei­se durch re­gel­kon­for­mes Ver­kehrs­ver­hal­ten, Ehren­amt oder Organ­spen­de – steigt die so­zia­le An­er­ken­nung und Boni er­öff­nen Vor­tei­le im All­tag – et­wa ver­kürz­te War­te­zei­ten für ge­wis­se Stu­dien­gän­ge. Das ge­sell­schaft­li­che Wer­te­set wird ho­mo­ge­ni­siert. Die Stu­die er­gänzt, dass die Corona-Krise „die At­trak­ti­vi­tät von auf Big Data ba­sie­ren­dem Au­to­ri­ta­ris­mus“ zu stei­gern vermag.

Ein 2030 verwirklichtes „Bonus-System“ wi­der­spricht al­ler­dings so­zial­di­gi­ta­len Vor­stel­lun­gen von ei­ner hu­ma­nen, plu­ra­len, di­gi­tal-kom­pe­ten­ten Zi­vil­ge­sell­schaft. Es be­grün­det die Not­wen­dig­keit, sich in den kon­flik­tä­ren Aus­hand­lungs­pro­zess über Wer­te und ih­re In­hal­te ein­zu­brin­gen, um den Weg in ei­ne frei­heit­li­che Zu­kunft zu eb­nen. Denn: Die Di­gi­ta­li­sie­rung ist der Wür­de des Men­schen ent­spre­chend zu gestalten.

4. Digitalisierung der Kommunen tranig

Unterdessen hat die Corona-Krise erst einmal die ⭲ Mängel der Di­gi­ta­li­sie­rung vor Au­gen ge­führt. So ha­ben neun von zehn Bun­des­bür­ger (88 Pro­zent) der­zeit den Ein­druck, die Po­li­tik ver­schleppt die Di­gi­ta­li­sie­rung. 94 Pro­zent se­hen „gra­vie­ren­de De­fi­zi­te“. Mehr als die Hälf­te (55 Pro­zent) ist mit den Online-Dienst­leis­tun­gen der Be­hör­den un­zu­frie­den. Das be­sagt der „Di­gi­ta­li­sie­rungs­mo­ni­tor 2021“, ei­ne re­prä­sen­ta­ti­ve Be­fra­gung des Mei­nungs­for­schungs­in­sti­tuts forsa im Auf­trag der FDP-Bundestagsfraktion.

Besonders unter Druck: ⭲ die Kommunen. In der Corona-Krise ist der her­kömm­li­che Bür­ger­kon­takt aus In­fek­tions­schutz­grün­den auf ein Mi­ni­mum re­du­ziert wor­den. Im Eil­ver­fah­ren ein­ge­führt wur­den bei­spiels­wei­se Be­su­cher­steue­rung per Telefon oder E-Mail, ⭲ Homeoffice-Re­ge­lun­gen und Rat­sit­zun­gen per Videokonferenz.

Den Kommunalfinanzen droht Long COVID.
Dr. Friederike „Fritzi“ Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der KfW Bankengruppe, 6. Mai 2021 (dpa/A317B3)

Fakt ist: Das „Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Ver­wal­tungs­leis­tun­gen (Online­zu­gangs­ge­setz – OZG)“ ver­pflich­tet Bund, Län­der und Kom­mu­nen längst, ih­re Ver­wal­tungs­leis­tun­gen bis zum 31. De­zem­ber 2022 über Ver­wal­tungs­por­ta­le auch digital an­zu­bie­ten. Prio­ri­tär um­zu­set­zen sind von den knapp 6.000 Leis­tun­gen ins­ge­samt 575. Auß­er­dem un­ter­stützt der Frei­staat Bayern die Kom­mu­nen über die „Richt­li­nie zur För­de­rung der Be­reit­stel­lung von Online-Diensten im kom­mu­na­len Be­reich (För­der­richt­li­nie di­gi­ta­les Rat­haus – FöRdR)“: Be­zir­ke, Land­kreise, Städ­te und Ge­mein­den wer­den mit ins­ge­samt 42,68 Mil­lio­nen Euro gefördert.

Der ⭱ Bezirk Oberbayern hat über­dies ei­ne ⭱ „Zu­kunfts­stra­te­gie 2030+“ mit sie­ben „Hand­lungs­fel­dern“ ent­fal­tet, dar­un­ter das der Di­gi­ta­li­sie­rung. Hier sol­len Ar­beits­ab­läu­fe und Kom­mu­ni­ka­tions­we­ge in­ner­halb der Ver­wal­tung durch Nut­zung di­gi­ta­ler Tech­no­lo­gien bür­ger­orien­tiert op­ti­miert wer­den. Alle sinn­voll um­stell­ba­ren Leis­tun­gen des Be­zirks sol­len künf­tig di­gi­tal zur Ver­fü­gung ste­hen, um An­lie­gen schnell und nut­zungs­freund­lich zu be­ar­bei­ten. Die Wei­ter­ent­wick­lung des E-Governments zeigt sich auch in die­ser Re­gion. Zwei Bei­spie­le der letz­ten Tage:

Rosenheim. Die Stadtverwaltung erhält im Rahmen des FöRdR ei­nen For­mu­lar­ser­ver. Das ⭲ Baye­ri­sche Staats­mi­nis­te­rium für Di­gi­ta­les (StMD) för­dert den Er­werb mit 20.000 Euro.

Mühldorf a.Inn. Das Landratsamt bietet in verschiedenen Fach­be­rei­chen kos­ten­freie vir­tu­el­le Sprech­stun­den an: vom All­ge­mei­nen So­zial­dienst über die Aus­bil­dungs­ak­qui­se bis hin zur Schwan­ge­ren­be­ra­tung. Die Nut­zung er­folgt nach Ter­min­ver­ein­ba­rung brow­ser­ba­siert über das Web­kon­fe­renz­sys­tem BigBlueButton. Al­le da­ten­schutz­recht­li­chen An­for­de­run­gen der Eu­ro­päi­schen Da­ten­schutz­grund­ver­ord­nung (EU-DSGVO) wer­den eingehalten.

Wer sich digital aufstellt, kann nicht nur Krisenzeiten besser überstehen,
sondern wird davon auch in einer Nach-Lockdown-Zeit profitieren.
Achim Berg, Prä­si­dent des Digital­ver­bands Bitkom, 5. Mai 2021 (dpa/A2EA71)

Trotzdem erfolgt die digitale Transformation mangels ein­mü­ti­ger Stra­te­gie nur in ⭲ Trip­pel­schrit­ten und oben­drein noch wi­der­sprüch­lich. Beispiel:

Eine Contact Tracing App wie die ⭲ Corona-Warn-App (CWA) des RKI, die der de­zen­tra­len Kon­takt­nach­ver­fol­gung dient, ist un­ter Be­tei­li­gung der PIRATEN pro­gram­miert wor­den und er­füllt ho­he Da­ten­schutz­stan­dards. Sie ist in­zwi­schen 28 Mil­lio­nen Mal herun­ter­ge­la­den wor­den und wird künf­tig auch den ge­plan­ten di­gi­ta­len Impf­nach­weis an­zei­gen. Den­noch emp­feh­len Bun­des­län­der wie Bayern, Hessen und Niedersachsen die pri­vat­wirt­schaft­li­che Luca-App, bei der etliche Da­ten­schüt­zer, IT-Si­cher­heits­ex­per­ten und Wis­sen­schaft­ler Be­den­ken äu­ßern ob der zen­tra­len Spei­che­rung der Daten.

Wir sind in einem Epochenwechsel.
Dr. Angela Merkel, MdB (CDU), Bun­des­kanz­le­rin der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, 21. Ju­ni 2021 (dpa/AC3FC0)

Kurz: Die Corona-Krise hat einen zu­sätz­li­chen, aber re­gel­freien Di­gi­ta­li­sie­rungs­schub be­wirkt. Die Große Koa­li­tion hat zwar die meis­ten ih­rer ge­plan­ten Di­gi­tal­vor­ha­ben um­ge­setzt, das Er­geb­nis ist den­noch ⭲ Flick­werk. Die ad­mi­nis­tra­ti­ve Auf­tei­lung der Di­gi­tal­kom­pe­ten­zen auf di­ver­se Res­sorts er­kennt nun selbst der Mi­nis­ter­prä­si­dent von Nord­rhein-West­fa­len und Kanz­ler­kan­di­dat Armin Laschet (CDU) als nicht sinn­voll an. Die Zeit ist über­reif für ei­ne ⭲ kon­so­li­dier­te, pro­ak­ti­ve und so­zia­le Di­gi­tal­po­li­tik, für ein ei­ge­nes ⭲ Di­gi­tal­mi­nis­te­rium auf Bundesebene.

5. Werteset popularisieren – Digitalisierung humanisieren

Corona-Krise, Grundrechtseinschränkungen, Digitalchaos: Die po­li­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen für den Be­zirks­vor­stand Oberbayern und den Kreis­vor­stand Rosenheim sind schwie­rig. Gleich­wohl ist die Sta­bi­li­tät der Kern­struk­tu­ren auch in den ver­gan­ge­nen 15 Mo­na­ten der Corona-Krise ein Be­leg für die Ro­bust­heit der Piraten­par­tei. Und die neuer­li­che Teil­nah­me der PIRATEN an der Bun­des­tags­wahl zeugt von der Wert­be­stän­dig­keit un­se­rer in­ter­na­tio­na­len di­gi­ta­len Bürgerrechtsbewegung.

Im bevorstehenden hybriden Bundestagswahlkampf liegt der Schwer­punkt der Piraten­par­tei Deutsch­land ge­mäß der LimeSurvey vom 20. April auf den Frei­heits- und Grund­rech­ten im Kon­text der Di­gi­ta­li­sie­rung. Aus­gangs­punkt muss die voll­stän­di­ge Wie­der­her­stel­lung der Grund­rech­te und des Grund­sat­zes der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit im Han­deln des Staa­tes sein. Stra­te­gi­sches Ziel wird sein, die Flick­schus­te­rei bei der di­gi­ta­len Trans­for­ma­tion zu be­en­den und die Di­gi­ta­li­sie­rung zu hu­ma­ni­sie­ren. Da­zu ist das Wer­te­set ei­ner kon­so­li­dier­ten, pro­ak­ti­ven und so­zia­len Di­gi­tal­po­li­tik in den kon­flik­tä­ren Aus­hand­lungs­pro­zess ein­zu­brin­gen. Dies muss über star­ke Re­prä­sen­tanz im öf­fent­li­chen wie im par­la­men­ta­ri­schen Raum ge­sche­hen. Da­für wün­sche ich den neuen Vor­stän­den Kraft und Erfolg.

Klarmachen zum Ändern! 

Pressekontakt
 

Dr. Olaf Konstantin Krueger M.A.

Digitaljournalist – Digitalpolitiker