Kritische Zwischenbilanz zum institutionalisierten Weg des Freistaats ins „Gigabit-Zeitalter“
Neun Monate Bayerisches Staatsministerium für Digitales: Hopp oder Top?
München — Der Freistaat Bayern hat im Zuge der schwarz-orangenen Regierungsbildung als erstes deutsches Bundesland am 12. November 2018 ein „Staatsministerium für Digitales (StMD)“ gegründet. Laut Koalitionsvertrag streben CSU und Freie Wähler an, bis 2025 den Freistaat „ins Gigabit-Zeitalter“ zu führen, insbesondere mit Breitband, flächendeckendem Mobilfunk, 5G, Blockchain-Technologie, Digitalen Klassenzimmern, Cybersecurity sowie digitaler Verwaltung und Justiz. Zur ersten amtierenden Staatsministerin des StMD wurde die 33-jährige Juristin Judith Gerlach (CSU) ernannt. Gerlach ist seit 2013 Landtagsabgeordnete in Bayern und erhielt bei der Landtagswahl 2018 mit 40,2 Prozent das Direktmandat für den Stimmkreis Aschaffenburg-Ost. Gegenüber br.de erklärte die Unterfränkin nach ihrer Ernennung: „Ja, Digitalisierung ist jetzt sicher nicht mein Spezialbereich, aber ein absolutes Zukunftsthema.“ In den sozialen Medien sei sie auf Facebook und Instagram „unterwegs“, auf Twitter nicht. Danach kritisierte br.de, Gerlach sei „Ministerin auf Zuruf. Ohne ausgemachte Fachkenntnis, ohne große politische Erfahrung und bisher ohne Vision für die digitale Zukunft Bayerns.“ – Ein berechtigtes Urteil, fragt der Digitaljournalist Dr. Olaf Konstantin Krueger. Im Rahmen der digitalpolitischen Sommervorträge des Bezirksverbandes Oberbayern der Piratenpartei Deutschland zieht Krueger neun Monate nach der Gründung des StMD eine kritische Zwischenbilanz: Was hat das Digitalministerium, was hat die Staatsministerin für Digitales bislang in Bayern bewirkt? Save the date: Sonntag, 25. August, 16 Uhr bis 18.15 Uhr, Landesgeschäftsstelle der Piratenpartei Deutschland, Schopenhauerstraße 71 in München.
Mit Gründung des Bayerischen Staatsministeriums für Digitales will der Freistaat „die fundamentale Bedeutung des digitalen Wandels“ unterstreichen und die weltweiten digitalen Entwicklungen „souverän“ mitgestalten. Institutionell zeigt sich der Freistaat damit zunächst erneut als Pionier: Bayern hatte als erstes deutsches Bundesland bereits am 8. Dezember 1970 ein „Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen (StMLU)“ gegründet. Damals hielt Ministerpräsident Dr. Alfons Goppel (CSU) die Bündelung umweltschutzrelevanter Belange in einem Ministerium für erforderlich, damit staatliche Bemühungen eine möglichst große Wirkung entfalteten. Die Bundesregierung folgte erst rund 16 Jahre später: Fünf Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurde am 6. Juni 1986 das „Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU)“ gegründet. Indem Ministerpräsident Dr. Markus Söder (CSU) die Digitalisierung 2018 erstmals an herausragender Stelle im Politikbetrieb abbildete, zog die Staatsregierung abermals an der Bundesregierung vorbei. Diese hat zwar seit dem 14. März 2018 mit der Unterfränkin Dorothee Bär (CSU) eine Staatsministerin für Digitalisierung bei der Bundeskanzlerin, doch nach der Bundestagswahl 2017 waren die Widerstände in der Großen Koalition noch zu stark, das tiefgreifende Querschnittsthema Digitalisierung in einem eigenen Bundesministerium zu institutionalisieren. Allerdings ist ein näherer Blick auf die Funktion des StMD aufschlussreich. Denn dessen Aufgabe ist nach Aussage von Staatsministerin Judith Gerlach vornehmlich die Vernetzung: „Wir entwickeln und bündeln strategische Ansätze, damit alle Ministerien beim Thema Digitalisierung koordiniert arbeiten.“
Konkret: Das StMD versteht sich als „Denkfabrik der Digitalisierung in Bayern“, zuständig für „Grundsatzangelegenheiten, Strategie und Koordinierung“. Hierfür übernahm das Digitalministerium die Aufgaben vom bisherigen Staatsminister für Digitales, Medien und Europa in der Staatskanzlei – Georg Eisenreich, MdL (CSU) – und die Digitalisierung der Verwaltung vom „Staatsministerium der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat (StMFLH)“. Staatsministerin Gerlach hat auch die Aufgabe als Beauftragte für Informations- und Kommunikationstechnik der Bayerischen Staatsregierung (Chief Information Officer – CIO Bayern) übernommen, sprich: die strategische Steuerung der Verwaltungsdigitalisierung des Freistaats Bayern, gibt dafür die strategische Zielrichtung vor und achtet auf die Umsetzung des Koalitionsvertrags, dass ab Ende 2020 für die wichtigsten Verwaltungsverfahren flächendeckende Online-Services für Bürger und Unternehmen bereitstehen. Gerlach ist zudem verantwortlich für die Koordination der Ressort-CIOs, die föderale IT-Kooperation im Bund, das IT-Recht, das IT-Controlling sowie ethische Fragen. Allerdings sind die Breitbanderschließung sowie die technischen Aspekte der digitalen Verwaltung und der IT-Sicherheit beim neu zugeschnittenen „Staatsministerium der Finanzen und für Heimat (StMFH)“ verblieben. Gegliedert ist das StMD entsprechend in vier Abteilungen: 1. Zentrale Angelegenheiten, Recht; 2. Digitale Strategie und Innovationen, audiovisuelle Medien; 3. IT-Strategie, IT-Recht und Digitale Verwaltung; 4. Digitale Koordinierung. Die Organisation bleibt freilich fluid. Und: Das StMD ist zwar strategisch aufgestellt, die Umsetzung der Vorhaben erfolgt jedoch durch die Fachressorts.
Von „Laptop und Lederhose“ zu „Dirndl und Digitalisierung“
Das Digitalministerium ist nur strukturell ein Novum. Einige Zuständigkeiten und Förderprogramme reichen Jahre zurück. So hat der Freistaat Bayern einen CIO Bayern erstmals am 19. Mai 2009 mit Ministerratsbeschluss bestellt. Und die „Zukunftsstrategie Bayern Digital“ hat die Bayerische Staatsregierung bereits 2015 vorgestellt sowie umfangreiche wirtschaftspolitische Fördermaßnahmen beschlossen. Allein das Investitionsprogramm „Bayern Digital“ hat ein Gesamtvolumen von sechs Milliarden Euro bis 2022 und setzt sich zusammen aus den beiden Masterplänen „Bayern Digital I“ (2015—2018, rund 2,5 Milliarden Euro) und „Bayern Digital II“ (2018—2022, rund 3,0 Milliarden Euro) sowie einigen ergänzenden Projekten. Wird das wirtschaftspolitische Gesichtsfeld vergrößert und die Innovationspolitik in Bayern seit der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges betrachtet, dann muss sogar die „Offensive Zukunft Bayern“ als Bezugspunkt für die Weiterentwicklung des Hightech-Standortes Bayern ins Auge gefasst werden.
Mitte der 1990er-Jahre konzentrierte Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (CSU) die technologischen Fördermaßnahmen einerseits auf die Bio- und Gentechnologie, andererseits auf die Informations- und Kommunikationstechnologie (IuK-Technologie). Die Investitionen erfolgten in drei Tranchen: Bei der Offensive I von 1994 flossen 3,2 Milliarden DM in Wissenschaft, Forschung und Technologietransfer, bei der Offensive II von 1996 flossen weitere 2,587 Milliarden DM in Wissenschaft, Forschung und Technologietransfer sowie in Unternehmensgründungen und den Beschäftigungspakt Bayern, bei der Offensive III („High-Tech-Offensive Bayern – HTO“) von 1998/1999 flossen nochmals 2,655 Milliarden DM in Wissenschaft, Forschung und Technologietransfer mit Schwerpunkt Hochtechnologie sowie den regionalen Aufbau von Technologienetzwerken. Die Dimension der „Offensive Zukunft Bayern“ und der kooperative Politikansatz Stoibers führten zu einer Bündelung der Kompetenzen in der Staatskanzlei. Neben einer Vielzahl an Projekten wurden auch 40 „Gründerzentren“ in Bayern geschaffen – in Oberbayern beispielsweise 1999 das „Gründerzentrum für Neue Medien (GZM)“ in Unterföhring, das 2006 in „b-neun Media & Technology Center“ umbenannt wurde, welches 2013 in München die Dependence „WERK1.Bayern“ eröffnete und ein Jahr später das Zentrum in Unterföhring schloss. Bundespräsident Prof. Dr. Roman Herzog (CSU) sprach 1998 mit Blick auf den Wandel Bayerns vom Agrar- zum Hightech-Standort von einer geglückten „Symbiose aus Laptop und Lederhose“, was die CSU durch stete Wiederholung als Redewendung etablierte. Allerdings ist die Biotechnologie in der Zwischenzeit aus dem Sichtfeld geraten, die Digitalisierung hingegen in den Vordergrund getreten, was sich auch an deren Rang im schwarz-orangenen Koalitionsvertrag ablesen lässt. Grund dafür sind disruptive Technologieschübe und ⭲ spektakuläre Defizite, etwa bei Mobilfunk und Breitband.
„Ein zuverlässiger Mobilfunk und schnelles Internet sind für viele Bürger der subjektive Gratmesser für den Fortschritt der Digitalisierung“, weiß Gerlach und betont, die Bayerische Staatsregierung investiere „massiv“, um „die letzten weißen Flecken Bayerns zu schließen“: „Bis 2025 sorgen wir in ganz Bayern für eine gigabitfähige Infrastruktur und nehmen für das bayerische Breitbandförderprogramm 2,5 Milliarden Euro in die Hand. Die Mobilfunkversorgung verbessern wir mit 1.000 neuen Sendemasten bis 2020“, so Gerlach. Und weiter: „Innerhalb der Staatsregierung sind das Finanzministerium für den Breitbandausbau und das Wirtschaftsministerium für den Mobilfunk zuständig. Als Digitalministerin begleite und verfolge ich das Thema intensiv. Denn: Die Digitalisierung steht und fällt mit der digitalen Infrastruktur. Da dürfen wir keine Zeit verlieren.“ Mit anderen Worten: In Bayern ist für den Breitbandausbau das Finanzministerium zuständig, für den Mobilfunk das Wirtschaftsministerium.
Daneben hat Gerlach Ende 2018 das Frauentalentprogramm „BayFiD – Bayerns Frauen in Digitalberufen – Fit für den digitalen Wandel“ ins Leben gerufen und Bär als erste „Digitalpatin“ gewonnen: „Wir brauchen nicht nur Laptops und Lederhosen, sondern auch Dirndl und Digitalisierung“, begründet Bär ihre Unterstützung. Hintergrund: Nur 20 Prozent der Informatik-Studierenden sind weiblich. BayFiD soll „eine Trendumkehr“ bewirken: „Gemeinsam mit Partnern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verbänden wollen wir jedes Jahr 50 junge Frauen in einem zweijährigen Programm auf dem Weg in einen digitalen Beruf unterstützen. Dazu bieten wir interaktive Workshops und individuelle Angebote an, die den Teilnehmerinnen einen vertieften Einblick in die Praxis vermitteln sollen“, erklärt Gerlach.
Conclusio: Erster Schritt auf langem Weg
Die Digitalisierung als epochale Herausforderung gestückelt vielen Ministerien, Abteilungen und Referaten unterzuschieben, führt – wie vom Kabinett Merkel III anschaulich demonstriert – in zentralen Fragen zu (partei-)politischem Kompetenzgerangel verschiedener Ressorts und gefährdet den Erfolg des Lebens-, Wissens-, Wirtschafts- und Technologiestandortes. Dagegen trägt die Bündelung grundlegender Digitalkompetenzen in einem Ministerium der Dimension der ⭲ komplexen, mehrdimensionalen, dynamischen und schubweisen digitalen Transformation strategisch Rechnung und führt zu einer ressortübergreifenden zentralen Koordination der Digitalpolitik.
Diese Ansicht vertreten alle relevanten Verbände – vom „Bitkom – Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V.“, „Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte e. V.“ und „Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) e. V.“ über den „Bundesverband IT-Sicherheit e. V. (TeleTrusT)“, „eco – Verband der Internetwirtschaft e. V.“ und „Nationale Initiative für Informations- und Internet-Sicherheit (NIFIS) e. V.“ bis hin zur „Rechtswissenschaftlichen Gesellschaft für Künstliche Intelligenz und Robotik e. V./Robotics & AI Law Society (RAILS) e. V.“, zum „Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland e. V.“ und zum „Zentralverband der Ingenieurvereine (ZBI) e. V.“.
Doch im Kabinett Merkel IV ist die digitale Transformation abermals ein ⭲ Querschnittsthema, das sich durch alle Ressorts zieht: vom Bundeskanzleramt über den Kabinettausschuss für Digitalisierung und den Digitalrat bis hinein in die Bundesministerien und zum Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Zumindest hat die Große Koalition in Berlin eine „Umsetzungsstrategie der Bundesregierung zur Gestaltung des digitalen Wandels“ zustande gebracht, die – ausgehend vom Koalitionsvertrag – für diverse Herausforderungen Maßnahmen plus Umsetzungspläne für die Bundesministerien definiert.
Der Freistaat Bayern wiederum hat mit der Gründung des Bayerischen Staatsministeriums für Digitales einen wichtigen Markstein gesetzt, dass die digitale Transformation tatsächlich „Chefsache“ ist und die Bekenntnisse in ⭲ konkrete Projekte und Fördermaßnahmen übersetzt werden. Dabei können die Vernetzung der Staatsministerien, handwerkliche Routineaufgaben und die Fortsetzung der Fördermaßnahmen nur der erste Schritt für ein bereichsübergreifend und ganzheitlich agierendes Digitalministerium auf dem noch langen Weg ins „Gigabit-Zeitalter“ sein. Benötigt wird neben einer ⭲ konsolidierten, proaktiven Digitalpolitik eine ⭲ digital-kompetente Zivilgesellschaft, die den digitalen Wandel mitgestaltet. Erforderlich ist ein bündiges Zukunftsnarrativ.
Kruegers Vortrag „Kritische Zwischenbilanz zum institutionalisierten Weg des Freistaats ins ‚Gigabit-Zeitalter’ – Neun Monate Bayerisches Staatsministerium für Digitales: Hopp oder Top?“ ist am Sonntag, 25. August, mit Diskussion von 16 Uhr bis 18.15 Uhr in der Landesgeschäftsstelle der Piratenpartei Deutschland, Schopenhauerstraße 71 in München. Der Eintritt ist frei. Der Vortrag wird gestreamt und ist fürderhin ⭱ auf YouTube abrufbar. Medienvertreter haben im Anschluss die Möglichkeit zu Interviews. ‡
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