Debatte um Freiheitsrechte in der Corona-Krise
Herrmann: „Rechtsstaat ist voll funktionsfähig“

Berlin / München — „Corona-Kehrtwende“, „Turbo-Rückkehr in die Nor­ma­li­tät“ und „Fahr­plan für ei­nen Neu­start der deut­schen Wirt­schaft“: Die Euphorie über die Lo­cke­run­gen der wo­chen­lan­gen flä­chen­de­cken­den Ein­schrän­kun­gen über­strahlt die Furcht vor der Aus­brei­tung des neu­ar­ti­gen Coronavirus’ (SARS-CoV-2) und vor den Schä­den des dras­ti­schen Lockdowns. Das Hoch­ge­fühl über­deckt kurz­fris­tig auch die Kon­tro­ver­se um das Ver­hält­nis zwi­schen Si­cher­heit und Frei­heit im Rechts­staat, wel­che durch die Maß­nah­men in der Corona-Krise an­ge­sto­ßen wor­den ist: In­wie­weit sind schwer­wie­gen­de Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen zu­guns­ten des Ge­sund­heits­schut­zes zu recht­fer­ti­gen?

Wegweiser

Merkel: „Öffnungsdiskussionsorgien“

Sieben Wochen Lockdown, Debatte über die Exit-Strategie: „Wir ste­hen noch mit­ten in der Pandemie“, mahnte Baden-Württembergs Mi­nis­ter­prä­si­dent Winfried Kretschmann (Bünd­nis 90/DIE GRÜ­NEN). Doch selbst der Ord­nungs­ruf von Bun­des­kanz­le­rin Dr. Angela Merkel (CDU) und ih­re Kri­tik an „Öff­nungs­dis­kus­sions­or­gien“ ver­moch­te nicht, den Druck zur schritt­wei­sen Lo­cke­rung der Corona-be­ding­ten Auf­la­gen zu de­ckeln. Bayerns Mi­nis­ter­prä­si­dent Dr. Markus Söder (CSU), derzeit Vor­sit­zen­der der Mi­nis­ter­präsi­den­ten­kon­fe­renz, pro­fi­lier­te sich oben­drein als Takt­ge­ber: „Wir müs­sen end­lich zu grund­le­gen­den, lang­fris­ti­gen Plä­nen kom­men und uns nicht nur von Woche zu Woche han­geln.“ Mitt­woch folg­te dann die Wen­de. Der Clou: ein Bün­del weit rei­chen­der Lo­cke­run­gen und die Re­gio­na­li­sie­rung der Verantwortung.

Es muss sich keiner Sorgen machen, dass der Zustand ewig so dauert.
Dr. Markus Söder, MdL (CSU), Mi­nis­ter­prä­si­dent des Frei­staa­tes Bayern, 30. April 2020

Merkel hatte sich allerdings durchgesetzt – mit ei­ner „Ober­gren­ze“: Die Corona-Krise sei nur in den Griff zu be­kom­men bei ma­xi­mal 50 akut In­fi­zier­ten pro 100.000 Ein­woh­nern in­ner­halb der letz­ten sie­ben Ta­ge. Da­durch sei die Nach­voll­zieh­bar­keit der Kon­takt­ket­te noch ge­ge­ben. Die In­fek­tion kön­ne nicht ent­glei­ten. Wer­de die­se In­fek­tions­ra­te je­doch über­schrit­ten, sei er­neut ein Be­schrän­kungs­kon­zept ein­zu­füh­ren. Bei ver­teil­ten re­gio­na­len Aus­bruchs­ge­sche­hen und un­kla­ren In­fek­tions­ket­ten müss­ten ent­spre­chend lo­ka­le Be­schrän­kun­gen um­ge­setzt wer­den, da­mit nicht das ge­sam­te Bun­des­ge­biet in Mit­lei­den­schaft ge­zo­gen werde.

Verordnungen verschärfen Einschränkungen

Was dies konkret bedeutet, veranschaulichen die am 16. März zwi­schen Bund und Län­dern be­schlos­se­nen „Leit­li­nien“ zum ein­heit­li­chen Vor­ge­hen wäh­rend der Pandemie: Die Maß­nah­men be­grün­de­ten die Schlie­ßung von Spiel­plät­zen, Ki­tas, Schu­len, Clubs, Thea­tern und Ein­zel­han­dels­ge­schäf­ten – Aus­nah­me: ⭲ Le­bens­mit­tel­ge­schäf­te –, ver­bo­ten Zu­sam­men­künf­te in Kir­chen, Mo­scheen und Sy­na­go­gen. Bund und Län­der ei­nig­ten sich am 22. März zu­dem auf ⭲ um­fang­rei­che Kon­takt­be­schrän­kun­gen: Die Bun­des­bür­ger soll­ten ih­re ⭲ so­zia­len Kon­tak­te weit­ge­hend re­du­zie­ren (Social Distancing) und im öf­fent­li­chen Raum ei­nen Min­dest­ab­stand von 1,50 Me­ter zu­ein­an­der hal­ten. Ihr Auf­ent­halt im öf­fent­li­chen Raum war nur al­lei­ne, mit ei­ner wei­te­ren nicht im Haus­halt le­ben­den Per­son oder im Kreis der An­ge­hö­ri­gen des ei­ge­nen Haus­stands ge­stat­tet – Aus­nah­men: der Weg zur Ar­beit, zur Not­be­treuung, die Teil­nah­me an er­for­der­li­chen Ter­mi­nen, in­di­vi­duel­ler Sport und die Be­we­gung an der fri­schen Luft. Grup­pen feiern­der Men­schen wa­ren nun in­ak­zep­ta­bel. Gas­tro­no­mie­be­trie­be und Dienst­leis­tungs­be­trie­be im Be­reich der Kör­per­pfle­ge wur­den ge­schlos­sen – Aus­nah­men gal­ten nur für me­di­zi­nisch not­wen­di­ge Diens­te. In al­len Be­trie­ben muss­ten Hy­gie­ne­vor­schrif­ten ein­ge­hal­ten so­wie wirk­sa­me Schutz­maß­nah­men um­ge­setzt wer­den. Bayern, Sach­sen und das Saar­land gin­gen darüber hin­aus, er­laub­ten das Ver­las­sen der ei­ge­nen Woh­nung nur noch bei Vor­lie­gen ei­nes „trif­ti­gen Grundes“.

Vertrauen ist der Grundsatz. Dann muss man natürlich ab und zu auch kontrollieren,
das ist klar. Aber wenn wir dieses Vertrauen nicht mehr haben, dass Landräte, Bürgermeister, Gesundheitsämter gut arbeiten, dann können wir einpacken.
Das ist dann nicht unsere Bundesrepublik Deutschland.
Dr. Angela Merkel, MdB (CDU), Bun­des­kanz­le­rin der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, 6. Mai 2020

Mit Beschluss vom 30. März er­klär­te der ⭱ Baye­ri­sche Ver­wal­tungs­ge­richts­hof (BayVGH) die vorüber­ge­hen­den Aus­gangs­be­schrän­kun­gen auf­grund der Ver­ord­nung des Baye­ri­schen Staats­mi­nis­te­riums für Ge­sund­heit und Pfle­ge (StMGP) vom 24. März für zu­läs­sig: Die Ver­ord­nung ver­sto­ße nicht ge­gen das ver­fas­sungs­recht­li­che Über­maß­ver­bot und ste­he auch sonst mit hö­her­ran­gi­gem Recht im Ein­klang (⭱ Az. 20 NE 20.632). Ob­schon die Maß­nah­men zu­nächst für zwei Wo­chen gel­ten soll­ten, sind sie mitt­ler­wei­le bis zum 5. Ju­ni ver­län­gert wor­den – elf Wo­chen. Un­ter­des­sen wur­de über Buß­gel­der sin­niert, das In­fi­zier­ten-Tra­cking mit­tels Handy-Or­tung oder via ⭲ Smartphone-App de­bat­tiert, oben­drein die all­ge­mei­ne Zwangs­imp­fung angedacht.

Einigten sich Bund und Länder bereits am 15. April laut Merkel „mit äu­ßers­ter Vor­sicht“ auf Lo­cke­run­gen der stren­gen Re­geln, et­wa auf die ⭲ Wie­der­auf­nah­me des Schul­be­triebs ab 4. Mai ein­schließ­lich Mas­ken­ge­bot im öf­fent­li­chen Raum, so be­schlos­sen sie am 6. Mai an­ge­sichts nie­dri­ger In­fek­tions­zah­len wei­te­re Er­leich­te­run­gen: Künf­tig dür­fen sich wie­der An­ge­hö­ri­ge von zwei Haus­hal­ten tref­fen so­wie Pa­tien­ten oder Be­woh­ner in Kli­ni­ken, Pfle­ge­hei­men und Be­hin­der­ten­ein­rich­tun­gen wie­der­keh­rend Be­such er­hal­ten. Al­le Ge­schäf­te kön­nen un­ter Auf­la­gen öff­nen. Der Trai­nings­be­trieb im Brei­ten- und Frei­zeit­sport ist un­ter freiem Him­mel er­laubt, die Fuß­ball-Bun­des­li­ga darf die un­ter­bro­che­ne Sai­son ab der zwei­ten Mai-Hälf­te mit „Geis­ter­spie­len“ fort­set­zen. Tre­ten je­doch re­gio­nal zu vie­le Neu­in­fek­tio­nen auf, sind die Be­schrän­kun­gen dort wie­der zu ver­schär­fen. Wohl­ge­merkt: Schutz­maß­nah­men, Ab­stands­re­geln und Kon­takt­be­schrän­kun­gen blei­ben bestehen.

Schäuble: „Grundrechte beschränken sich gegenseitig“

Die sukzessive Lockerung über­deckt die zu­letzt auf­kei­men­de De­bat­te über die Ver­hält­nis­mä­ßig­keit der Be­schrän­kung von Frei­heits­rech­ten zum Schutz an­de­rer oder des Ge­mein­wohls. Le­gi­tim ist: Zur Be­wäl­ti­gung der Pandemie kann der Staat Grund­rech­te be­schrän­ken. Recht­li­che Grund­la­ge für die ak­tuel­len staat­li­chen Maß­nah­men ist das ⭱ In­fek­tions­schutz­ge­setz (IfSG), wel­ches Schutz­maß­nah­men zur Seu­chen­be­kämp­fung re­gelt. So kön­nen zur Ver­hin­de­rung der Ver­brei­tung über­trag­ba­rer Krank­hei­ten Grund­rech­te wie die Ver­samm­lungs­frei­heit und die Un­ver­letz­lich­keit der Woh­nung be­schränkt wer­den (IfSG § 28). Darüber hinaus kön­nen die Lan­des­re­gie­run­gen noch ei­ge­ne Ge­bo­te und Ver­bo­te in Form von Rechts­ver­ord­nun­gen er­las­sen (IfSG § 32).

Das verfassungsrechtlich legitime Anliegen, die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung zu schützen, berechtigt nicht zu Freiheitseinschränkungen jedweder Art.
Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier, ehem. Prä­si­dent des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts,
20. Ok­to­ber 2020

Allerdings darf der Staat nur dann in Grundrechte eingreifen, wenn dies ver­hält­nis­mä­ßig zum ver­folg­ten Zweck ist. Ins­ge­samt sind der­zeit fol­gen­de im ⭱ Grundgesetz (GG) fest­ge­schrie­be­nen Grund­rech­te be­trof­fen oder be­schränkt: die Ver­pflich­tung al­ler staat­li­chen Ge­walt zur Ach­tung der Men­schen­wür­de (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG), das Recht auf freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit (Art. 2 Abs. 1 GG), das Recht auf Le­ben und kör­per­li­che Un­ver­sehrt­heit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), die Frei­heit der Per­son (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG), das Recht auf un­ge­stör­te Re­li­gions­aus­übung (Art. 4 Abs. 2 GG), die Ver­samm­lungs­frei­heit (Art. 8 Abs. 1 GG), die Ver­ei­ni­gungs­frei­heit (Art. 9 GG) so­wie die Frei­heit der Be­rufs­wahl (Art. 12 Abs. 1 GG).

Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble (CDU) qua­li­fi­zier­te da­zu En­de April die Vor­stel­lung, al­les ha­be vor dem Schutz von Le­ben zu­rück­zu­tre­ten: „Das ist in die­ser Ab­so­lut­heit nicht rich­tig. Grund­rech­te be­schrän­ken sich ge­gen­sei­tig. Wenn es über­haupt ei­nen ab­so­lu­ten Wert in un­se­rem Grund­ge­setz gibt, dann ist das die Wür­de des Men­schen. Die ist un­an­tast­bar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir ster­ben müs­sen.“ Der Staat müs­se zwar für al­le die best­mög­li­che ge­sund­heit­li­che Ver­sor­gung ge­währ­leis­ten. „Aber Men­schen wer­den wei­ter auch an Corona ster­ben“, so der Jurist.

Der Staat hat gezeigt, dass er eine Menge bewegen kann in kurzer Zeit,
und die Menschen vertrauen ihm. Bislang jedenfalls.
Prof. Dr. Dres. h.c. Andreas Voßkuhle, Prä­si­dent des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, 13. Mai 2020

Der ehemalige Prä­si­dent des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier be­tont in die­sem Zu­sam­men­hang die Rol­le des Rechts­staates. Bei der Ab­wä­gung seien die kol­li­die­ren­den Grund­rech­te an­ge­mes­sen zu be­rück­sich­ti­gen: Ge­sund­heits­schutz recht­fer­ti­ge nicht jed­we­den Frei­heits­ein­griff. Zu­dem müss­ten die Ein­schrän­kun­gen im­mer wie­der auf ih­re Ver­hält­nis­mä­ßig­keit hin ge­prüft wer­den: „Nicht die Maß­nah­men der Lo­cke­rung sind recht­fer­ti­gungs­be­dürf­tig, son­dern die Auf­recht­er­hal­tung von Be­schrän­kun­gen der Grund­rech­te.“ Papier wirft zu­dem die Fra­ge auf, ob die durch exe­ku­ti­ve Ver­ord­nun­gen und be­hörd­li­che Ver­wal­tungs­ak­te ge­schaf­fe­ne „Art Not­stands­ord­nung“ ver­fas­sungs­recht­lich zu­läs­sig sei: Je län­ger die Maß­nah­men fort­be­stün­den, des­to mehr be­dürf­ten sie der ⭲ Er­mäch­ti­gung durch ein be­son­de­res Bun­des­ge­setz. Ele­men­tar: „We­sent­li­che Ent­schei­dun­gen in Fra­gen der Grund­rechts­aus­übung hat das Par­la­ment zu tref­fen.“

Der Bayerische Staatsminister des Innern Joachim Herrmann (CSU) ver­si­chert dem­ge­gen­über, die in der Corona-Krise ge­trof­fe­nen Ein­schrän­kun­gen von Grund­rech­ten wür­den wie­der zu­rück­ge­nom­men. „Ich ha­be über­haupt kei­nen Zwei­fel, dass es in punc­to Grund­rechts­la­ge am Schluss wie­der so sein wird, wie es war“, sagt Herrmann. „Wir hat­ten mas­si­ve Grund­rechts­ein­grif­fe, aber es ist wich­tig fest­zu­stel­len: Wir ha­ben zu kei­nem Zeit­punkt un­se­re De­mo­kra­tie au­ßer Kraft ge­setzt.“ Und: „Der Rechts­staat ist voll funk­tions­fä­hig.“ 


Erstveröffentlichung

Print: Ro­sen­hei­mer blick, Inn­ta­ler blick, Mang­fall­ta­ler blick, Was­ser­bur­ger blick, 33. Jg., Nr. 19/2020, Sams­tag, 9. Mai 2020, S. 1f., Ko­lum­ne „Leit­ar­ti­kel“ (Kurz­fas­sung); Inn-Salz­ach blick, 12. Jg., Nr. 19/2020, Sams­tag, 9. Mai 2020, S. 1f., Ko­lum­ne „Leit­ar­ti­kel“ (Kurz­fas­sung) [202/3/1/11].
Online: ⭱ blick-punkt.com, Mitt­woch, 6. Mai 2020; ⭱ E-Paper Ro­sen­hei­mer blick, ⭱ E-Paper Inn­ta­ler blick, ⭱ E-Paper Mang­fall­ta­ler blick, ⭱ E-Paper Was­ser­bur­ger blick, ⭱ E-Paper Inn-Salz­ach blick, Sams­tag, 9. Mai 2020. Stand: Neu­jahr, 1. Ja­nu­ar 2024.
 

Dr. Olaf Konstantin Krueger M.A.

Digitaljournalist – Digitalpolitiker

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