Amtsgericht Rosenheim prüft vorsätzliche Körperverletzung im Amt
Jugendliche enttäuscht über „brutale Polizei“
Wasserburg a.Inn / Rosenheim — Der Vorwurf wiegt schwer: Ein Polizeikommissar bei der Polizeiinspektion Wasserburg a.Inn soll während seines Dienstes in der Silvesternacht 2012/2013 einen Zivilisten körperlich misshandelt und gesundheitlich geschädigt haben. Das Amtsgericht Rosenheim versucht, den Hergang zu klären, und steht am vierten Verhandlungstag kurz vor dem Ende der Beweisaufnahme. Die größte Hürde: widersprüchliche Aussagen.
„Definitiv war niemand im Schwitzkasten“, betont der achte Zeuge, ein Polizeibeamter aus Wasserburg und Dienstgruppenleiter in der Silvesternacht. „Der Kreuzfesselgriff ist ein ganz normaler Schulungsgriff.“ Dieser auch als „Armbeugehebel“ bekannte Griff ist dem Amtsgericht aber alleine mit Worten nur schwer zu veranschaulichen. Deshalb bittet Staatsanwältin Susanne Schatt den Polizisten, den Kreuzfesselgriff an ihr zu zeigen, und legt dafür ihre Robe ab.
Der Polizist winkelt Schatts linken Arm mit Bedacht auf ihrem Rücken an. Dann greift er mit seinem rechten Arm durch ihre Armbeuge, umschließt mit der Hand ihren Oberarm und demonstriert, wie mühelos er Schatt mittels Hebel nach vorne zwingen kann. Noch einfacher gehe das, wenn die Staatsanwältin an den Handgelenken gefesselt sei. Auf diese Weise soll nun der Geschädigte in der Silvesternacht von zwei Kollegen in die Inspektion gebracht worden sein. „Da war kein Vorkommnis“, wiederholt der Polizist, „ich hätte das ja mitkriegen müssen“.
Doch damit gibt sich Rechtsanwalt Oliver Drexler nicht zufrieden. Schließlich geht es um vorsätzliche Körperverletzung im Amt. Zu klären gilt, wie sein heute 54-jähriger Mandant verletzt wurde. Im Fokus steht zunächst, wie der Geschädigte am Wasserburger Einsatzort „Roter Turm“ vom angeklagten Beamten und anderen als Verstärkung eingetroffenen Polizisten überwältigt wurde, wie er dann hinter einen Sichtschutz geführt, dort zu Boden und mit den Händen auf dem Rücken gefesselt zum Polizeiwagen gebracht wurde.
Danach ist zu klären, was auf der Fahrt zur Dienststelle der Polizeiinspektion Wasserburg geschah. Der Angeklagte soll dem Geschädigten ohne rechtfertigenden Grund einen kräftigen Faustschlag gegen den Kopf versetzt haben, bei dem der Geschädigte eine Platzwunde und einen Bluterguss erlitt. Schließlich soll es selbst auf der Dienststelle zu Übergriffen gekommen sein, wobei sich der Geschädigte bis auf die Unterhose ausziehen musste und erneut am Boden fixiert worden sei. Allerdings steht auch im Raum, dass der Polizeibeamte seinerseits vom Geschädigten angegangen worden sei.
Drexler interessieren die Details. Dazu gehört, wie der Geschädigte im Kreuzfesselgriff mit zwei Polizisten durch eine normale Türfüllung der Dienststelle gepasst haben soll. Der befragte Dienstgruppenleiter beharrt darauf, einen Wechsel vom Kreuzfesselgriff hin zum „Schwitzkasten“ habe er „100-prozentig“ nicht gesehen. Der Angeklagte wiederum schweigt. Sein Verteidiger Peter Dürr erklärt nur, Einlassungen werde es nicht geben. Richter Christian Baier deutet schließlich an, dass er eine Ortsbegehung in Betracht zieht. Das kann den Prozess womöglich bis Ende August verlängern.
Mit Details tun sich alle an diesem Verhandlungstag befragten Jugendlichen schwer. Manche schildern auch Widersprüchliches vom „Roten Turm“. Weder der Angeklagte noch der Geschädigte werden wiedererkannt. Gesprochen wird vielmehr von einem Polizisten „mit Glatze“ und einem Mann, der misshandelt worden wäre. Das Geschehen liegt anderthalb Jahre zurück und deshalb versucht Richter Baier, den Jugendlichen durch das Verlesen ihrer damaligen Aussagen bei der polizeilichen Vernehmung auf die Sprünge zu helfen. Einige zucken dabei nur mit den Achseln. Andere geben unumwunden zu, ihnen wäre eine Polizeikontrolle als feiernde Minderjährige unangenehm gewesen. Manchen ist es peinlich, dass zu Protokoll gegeben ist, sie hatten zum Tatzeitpunkt alkoholische Getränke dabei oder schmusten. Drei Zeugen stechen aber heraus.
Eine heute 19-jährige Schülerin erinnert sich, dass die „gute Stimmung“ beim Eintreffen der Polizei umschlug. Auf mehrmaliges Nachfragen des Richters ergänzt sie, dass auch beleidigende Worte gegenüber den Beamten gefallen wären. Ein inzwischen 17-jähriger Schüler schildert eingehend die „aggressive Haltung“ der Polizei gegenüber „dem Mann“, dessen Kopf im Verlauf der Auseinandersetzung zweimal auf die Motorhaube geschlagen worden wäre. Und eine heute 18-jährige Abiturientin beschreibt, wie „brutal“ ihr das Vorgehen gegen den Zivilisten vorkam. Dieser „sah auf jeden Fall hilflos aus“, habe sich lediglich abwehrend verhalten. Ihr Fazit: „Ich war an diesem Tag echt enttäuscht.“ ✻
Erstveröffentlichung
Print: Rosenheimer blick, Inntaler blick, Mangfalltaler blick, Wasserburger blick, 27. Jg., Nr. 30/2014, Samstag, 26. Juli 2014, S. 1/4, Kolumne „Leitartikel“ [174/5/1/5; ein Foto].
Online: ⤉ blick-punkt.com, Samstag, 26. Juli 2014; ⤉ E-Paper Rosenheimer blick, ⤉ E-Paper Inntaler blick, ⤉ E-Paper Mangfalltaler blick, ⤉ E-Paper Wasserburger blick, Samstag, 26. Juli 2014. Stand: Neujahr, 1. Januar 2024.