EuGH erteilt anlassloser Massenüberwachung Absage
Leutheusser-Schnarrenberger: „Sargnagel für den Zombie Vorratsdatenspeicherung“
Luxemburg / Berlin / München — Polizeibeamte und Innenpolitiker murren, Bürgerrechtler und Digitalpolitiker frohlocken: Das flächendeckende und anlasslose Speichern von Telekommunikationsverkehrsdaten bleibt laut Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) unzulässig. Ausnahmen sind allerdings möglich: zur Bekämpfung schwerer Kriminalität oder zur Abwehr einer Bedrohung der nationalen Sicherheit. „Goodbye Vorratsdatenspeicherung“, freut sich die ehemalige Bundesministerin der Justiz und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Demgegenüber appelliert Bayerns Innenminister Joachim Herrmann an den Bund: „Wir müssen alle Spielräume schnellstmöglich nutzen. Gerade die Speicherung von IP-Adressen muss entsprechend der jetzigen Vorgaben des EuGH ausgeschöpft werden.“
Wegweiser
- Vorratsdatenspeicherung: „faktisch ausgesetzt“
- Herrmann: „Kampf gegen Kinderschänder“
- Breyer: Kein Einfluss auf Kriminalität und Aufklärung
Vorratsdatenspeicherung: „faktisch ausgesetzt“
Der Streit um die Speicherung von Kommunikationsdaten zur späteren Abfrage durch Sicherheitsbehörden dauert mittlerweile anderthalb Jahrzehnte und hat mehrfach die Gerichte beschäftigt. Ausgangspunkt ist Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments (EP) und des Rates der Europäischen Union von Mitte März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten. Die Richtlinie wurde zwar 2007 von der Großen Koalition unter Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) durch nationalen Rechtsakt umgesetzt. Hiergegen wurden jedoch zahlreiche Verfassungsbeschwerden erhoben. Obgleich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die anlasslose Vorratsdatenspeicherung (VDS) bereits Anfang März 2010 für verfassungswidrig erklärte und sie der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Anfang April 2014 als nicht vereinbar mit der ⭱ Charta der Grundrechte der Europäischen Union einstufte, wurde sie im Oktober 2015 ⭲ trotz massiver Kritik abermals gesetzlich festgeschrieben. Erst nachdem der EuGH Ende Dezember 2016 bekräftigte, dass anlasslose VDS illegal ist, und das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) Ende Juni 2017 urteilte, dass das bundesdeutsche Gesetz gegen EU-Recht verstößt, wurde die VDS von der Bundesnetzagentur „faktisch ausgesetzt“.
Das aktuelle Urteil des EuGH bezieht sich zwar auf Fälle aus Belgien, Frankreich und Großbritannien. Doch die Entscheidung beeinflusst auch die Debatte in Deutschland. Die Streitfrage ist, ob den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste allgemeine Pflichten zur Datenspeicherung auferlegt werden dürfen. So bestimmt das ⭱ Telekommunikationsgesetz (TKG), welche Telekommunikationsverkehrsdaten von den Telekommunikationsanbietern gespeichert und im Einzelfall gemäß ⭱ Strafprozessordnung (StPO) herausgegeben werden dürfen – wohlgemerkt nach einem Antrag der das Ermittlungsverfahren leitenden Staatsanwaltschaft beim Ermittlungsrichter sowie dessen Prüfung und Anordnung an die Polizei. Eine letztinstanzliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) sowie eine Entscheidung des BVerfG und möglicherweise auch des EuGH zu den einschlägigen Regelungen in TKG und StPO steht jedoch aus.
Herrmann: „Kampf gegen Kinderschänder“
Polizeibeamte und Innenpolitiker verteidigen indes weiter die VDS, halten einen Verzicht für fahrlässig. So argumentiert etwa das Bundeskriminalamt (BKA), digitale Spuren an „Cyber-Tatorten“ seien unentbehrlich für die Aufklärung von Straftaten, Telekommunikationsverkehrsdaten unabdingbar für die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden. Im Visier wären ohnehin nur technische Daten, beispielsweise Standort und IP-Adresse der Nutzer, jedoch keine Inhalte von Telefongesprächen oder Kurznachrichten. Gerade die weltweit eindeutige IP-Adresse könne die Polizei zum Täter führen, etwa in Fällen von Kinderpornografie, Erpressung oder bei der Terrorabwehr. Ohne Telekommunikationsverkehrsdaten und IP-Adresse aber liefen die Aufklärung von Straftaten und die Gefahrenabwehr oftmals ins Leere.
Gerade in der jetzigen Corona-Krise ist es wichtig, Vertrauen in die Digitalisierung zu schaffen, um damit eine unbeschwerte berufliche und private Kommunikation zu ermöglichen. Eine flächendeckende Digital-Überwachung würde hier genau das Gegenteil erreichen.
RA Oliver J. Süme, Vorstandsvorsitzender des „eco – Verband der Internetwirtschaft e. V.“, 6. Oktober 2020
„Für mich ist ganz klar, dass wir die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen vor allem im Kampf gegen die schrecklichen Verbrechen von Kinderschändern nutzen müssen“, betont denn auch der Bayerische Staatsminister des Innern, für Sport und Integration im Kabinett Söder II, Joachim Herrmann (CSU). Netzwerke und Hintergründe könnten oft nur auf diese Weise aufgedeckt werden. „Das gilt auch für Anschläge von Extremisten jeglicher Couleur.“ Der Bayerische Staatsminister der Justiz, Georg Eisenreich (CSU), ergänzt wohlerwogen, perspektivisch sei eine Anpassung der Handlungsspielräume auf EU-Ebene erforderlich, denn: „Die europäische Rechtslage muss die Bedürfnisse der Strafverfolgung in der Praxis abbilden.“ Das von Christine Lambrecht (SPD) geführte Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) sei gefordert, die Zuordnung von IP-Adressen zu Personen nun mit Nachdruck zu verfolgen.
Breyer: Kein Einfluss auf Kriminalität und Aufklärung
Bürgerrechtler und Digitalpolitiker sehen sich allerdings gestärkt in ihrer Haltung, wonach die anlasslose und verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten unzulässig und unvereinbar mit europäischem Recht sei. So erläutert Dr. Patrick Breyer, Bürgerrechtler und EP-Abgeordneter der Piratenpartei, Straftäter könnten ohnehin die „Totalerfassung“ mit Anonymisierungsdiensten umgehen, der Normalnutzer hingegen werde „gläsern“. Überdies hätten einer Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des EP zufolge Gesetze zur flächendeckenden Vorratsspeicherung der Telefon-, Mobiltelefon- und Internetnutzung in keinem EU-Land einen messbaren Einfluss auf die Kriminalitätsrate oder die Aufklärungsquote. Vielmehr verhinderten sie vertrauliche Beratung etwa durch Anwälte und bedrohten die freie Presse, die auf anonyme Whistleblower angewiesen sei.
Tatsächlich begrüßen auch der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV), der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) und der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) das EuGH-Urteil, denn es „stützt die Bürgerrechte ganz grundsätzlich und hier insbesondere den Quellenschutz im Rahmen der Presse- und Rundfunkfreiheit“. Und selbst der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI), Prof. Dr. Ulrich Kelber (SPD), sieht sich in seiner kritischen Haltung bestätigt: Zwar stelle der EuGH klar, dass zur Abwehr schwerer Straftaten und zur Sicherstellung der nationalen Sicherheit weiterhin eine Vorratsdatenspeicherung möglich sei. Die jeweilige nationale Anordnung zur Vornahme der Speicherung müsse jedoch zeitlich befristet sein und einer wirksamen Überprüfung durch ein Gericht oder einer unabhängigen Verwaltungsbehörde unterliegen. Immerhin freut sich die Ehrenvorsitzende der FDP Bayern, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger bereits: „Das ist der letzte Sargnagel für den ‚Zombie’ Vorratsdatenspeicherung.“ ✻
Erstveröffentlichung
Print: Rosenheimer blick, Inntaler blick, Mangfalltaler blick, Wasserburger blick, 33. Jg., Nr. 42/2020, Samstag, 17. Oktober 2020, S. 1f., Kolumne „Leitartikel“ [185/3/1/8]; Inn-Salzach blick, 12. Jg., Nr. 43/2020, Samstag, 24. Oktober 2020, S. 1f., Kolumne „Leitartikel“ [185/3/1/8].
Online: ⭱ blick-punkt.com, Freitag, 9. Oktober 2020; ⭱ E-Paper Rosenheimer blick, ⭱ E-Paper Inntaler blick, ⭱ E-Paper Mangfalltaler blick, ⭱ E-Paper Wasserburger blick, Samstag, 17. Oktober 2020; ⭱ E-Paper Inn-Salzach blick, Samstag, 24. Oktober 2020. Stand: Neujahr, 1. Januar 2024.