Transatlantisches Freihandelsabkommen TTIP
Freihandel oder Handelsfalle?

Rosenheim / Bad Endorf — Betretene Gesichter bei den einen, Kopfschütteln bei den anderen: Ei­gent­lich soll es beim Transatlantischen Freihandelsabkommen doch um den Abbau von Handelshemmnissen zwi­schen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union ge­hen. Doch den Zu­hö­rern bei den Info­aben­den der Bünd­nis­grü­nen sind die Fra­ge­zei­chen ins Ge­sicht ge­schrie­ben. Denn das Frei­han­dels­ab­kom­men „Trans­at­lantic Trade and In­vest­ment Part­ner­ship“, kurz: TTIP, geht sehr viel wei­ter. Das, was die baye­ri­sche Land­tags­ab­ge­ord­ne­te Claudia Stamm zu­vor in Bad Endorf und jetzt in Rosenheim er­klärt, lässt an­fäng­li­che Euphorie abflauen.

Fakt ist, beide Wirtschaftsräume sind eng miteinander verflochten. Das in Geld aus­zu­drü­cken heißt schnell, Zah­len mit elf Stel­len in der Rech­nung zu ha­ben: So wer­den im Jahr Wa­ren und Dienst­leis­tun­gen für hun­der­te Mil­liar­den Eu­ro aus­ge­tauscht. Fie­len die Han­dels­hemm­nis­se weg, ent­stün­de ei­ne Frei­han­dels­zo­ne mit na­he­zu ei­ner Mil­liar­de Men­schen. Bei­de Wirt­schaf­ten spar­ten jähr­lich grob ein­hun­dert Mil­liar­den Eu­ro. Al­lein das Han­dels­vo­lu­men zwi­schen den USA und Deutschland wür­de sich ver­dop­peln. Über ei­ne Mil­lion Jobs ent­stün­den in den USA, im­mer­hin 180.000 in Deutschland.

Kritik an Klauseln und Maßnahmen

Der erste Einwand gegen TTIP ist fast unerheblich: Deutsch­land dürf­te im Jahr nur ei­nen an­ge­nom­me­nen Be­schäf­ti­gungs­zu­wachs von 0,04 Pro­zent er­le­ben, die Wirt­schafts­lei­stung stie­ge le­dig­lich um ein Pro­zent und bei klei­nen und mit­tel­stän­di­schen Un­ter­neh­men pro­fi­tier­ten nur ein paar Zu­lie­fer­be­trie­be. Kurz­um, die Ver­brau­cher ha­ben kaum et­was davon.

Durchgreifender ist vielmehr ein begleitendes Bündel von Klauseln und Maßnahmen: Die Ver­hand­lun­gen fin­den im Ge­hei­men statt, das Ab­kom­men führt zum Ab­sin­ken der in Deutsch­land ge­wohnt ho­hen Stan­dards, TTIP ver­an­kert ei­nen „In­ves­to­ren­schutz“, der durch ge­heim ta­gen­de „Schieds­ge­rich­te“ ab­ge­si­chert wird, und ei­ne „Still­stands­klau­sel“ ver­hin­dert nach­träg­lich Ge­set­ze, die den Han­del be­hin­der­ten. Die­se et­was sper­rig klin­gen­den Be­din­gun­gen ha­ben es in sich.

Wir reden zu viel über Chlorhühner und zu wenig über die geopolitische Bedeutung.
Sigmar Gabriel (SPD), Vize­kanz­ler der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und
Bun­des­mi­nis­ter für Wirt­schaft und Ener­gie im Ka­bi­nett Merkel III, 23. Fe­bru­ar 2015

Ziel des Abbaus der „nicht-tarifären Handelshemmnisse“ ist, die Stan­dards bei­der­seits des At­lan­tiks zu ver­ein­heit­li­chen. Da­zu zäh­len Auf­la­gen zu Qua­li­tät und Grenz­wer­ten, zu Da­ten­schutz, Li­zen­zen, Ver­pa­ckungs- und Kenn­zeich­nungs­pflich­ten, Stan­dards zum Ar­beits-, Ver­brau­cher- oder Um­welt­schutz, zur Ge­sund­heits­vor­sor­ge und zur Ver­ga­be von Auf­trä­gen der öf­fent­li­chen Hand, et­wa bei der Was­ser-, Ener­gie- und Ver­kehrs­ver­sor­gung. Bei „Un­ver­ein­bar­keit“ un­ter­zie­hen sich die be­trof­fe­nen Staa­ten bei TTIP ei­nem „In­ves­tor-Staats-Streit­bei­le­gungs­me­cha­nis­mus“. Da­bei kann ein In­ves­tor ge­gen ei­nen Staat kla­gen, um­ge­kehrt geht das aber nicht. Die Schieds­ge­rich­te ent­schei­den außer­halb der or­dent­li­chen Ge­richts­bar­keit, zu­meist im Ge­hei­men. Ihr Schieds­spruch ist bin­dend. Rechts­mit­tel kön­nen nicht ein­ge­legt wer­den. Die Kos­ten des Ver­fah­rens und den ein­ge­klag­ten Scha­dens­er­satz zah­len die be­trof­fe­nen Steuer­zah­ler. Ähn­li­che Kla­gen aus Han­dels­ab­kom­men gibt es be­reits, et­wa ge­gen Australien, Kanada, Peru und Griechenland.

Das bedeutet einen Dominoeffekt. Beispiel Gentechnik: Kommt TTIP, wer­den Stan­dards ge­senkt, im­por­tiert die Eu­ro­pä­ische Un­ion Gen­tech­nik, kla­gen Gen­tech­nik­kon­zer­ne in Deutsch­land ge­gen be­ste­hen­de Um­welt­ge­set­ze, ent­schei­det ein Schieds­ge­richt über die Zu­läs­sig­keit deut­scher Ge­set­ze und kippt sie. Fa­zit: Die De­mo­kra­tie wird ausgehebelt.

Parteiübergreifend Kritik an TTIP

Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen mit den bereits be­kann­ten „Chlor­hühn­chen“, aber auch mit „Hor­mon­fleisch“, Genfood, Trink­was­ser, Fra­cking, So­zial­stan­dards, Min­dest­lohn, Ar­beits­schutz, Ar­beit­neh­mer­rech­ten, Netz­neu­tra­li­tät und Da­ten­schutz. Des­halb wächst par­tei­über­grei­fend die Zahl der Kri­ti­ker an TTIP. Sie reicht in­zwi­schen von den Freien Wäh­lern über ÖDP, Bünd­nis 90/DIE GRÜ­NEN, PIRATEN und Tier­schutz­par­tei bis hin zur Par­tei DIE LINKE und der Bayern­par­tei. We­niger klar sieht es bei CSU, AfD und SPD aus. Wäh­rend et­wa die SPD ähn­lich wie die FDP den Ab­schluss von TTIP vor­an­trei­ben will, hat aber Maria Noichl, die letz­tes Wo­chen­en­de in das Europäische Parlament ge­wähl­te SPD-Spit­zen­kan­di­da­tin von Oberbayern/Schwaben, gegen TTIP Po­si­tion bezogen.

Für die Bündnisgrünen betont Claudia Stamm indes, Frei­han­dels­ab­kom­men seien grund­sätz­lich sinn­voll. Je­den­falls dann, wenn sie Stan­dards er­hö­hen, un­ter­schied­li­che tech­ni­sche Stan­dards har­mo­ni­sie­ren, über­flüs­si­ge Zöl­le sen­ken so­wie die Mit­spra­che­rech­te der na­tio­na­len Par­la­men­te und al­ler In­ter­es­sen­grup­pen wahren. 


Erstveröffentlichung

Print: Ro­sen­hei­mer blick, Inn­ta­ler blick, Mang­fall­ta­ler blick, Was­ser­bur­ger blick, 27. Jg., Nr. 22/2014, Sams­tag, 31. Mai 2014, S. 1f., Ko­lum­ne „Leit­ar­ti­kel“; Inn-Salz­ach blick, 7. Jg., Nr. 22/2014, Sams­tag, 31. Mai 2014, S. 1f., Ko­lum­ne „Leit­ar­ti­kel“ [150/4/–/–].
Online: ⤉ blick-punkt.com, Mitt­woch, 28. Mai 2014; ⤉ E-Paper Ro­sen­hei­mer blick, ⤉ E-Paper Inn­ta­ler blick, ⤉ E-Paper Mang­fall­ta­ler blick, ⤉ E-Paper Was­ser­bur­ger blick, ⤉ E-Paper Inn-Salz­ach blick, Sams­tag, 31. Mai 2014; ⭱ m-publishing.com, Sams­tag, 31. Mai 2014. Stand: Neu­jahr, 1. Ja­nu­ar 2024.
 

Dr. Olaf Konstantin Krueger M.A.

Digitaljournalist – Digitalpolitiker