Regierung erschließt Neuland
Gabriel: „Digitale Agenda“ ist ein „Hausaufgabenheft“

Berlin — Die Häme der Netzgemeinde kam prompt: Im Zuge der Kri­tik an ameri­ka­ni­schen Späh­pro­gram­men sprach Bun­des­kanz­le­rin Dr. Angela Merkel (CDU) noch vor ei­nem Jahr vom in­zwi­schen vier Jahr­zehn­te al­ten In­ter­net als „Neu­land“. Nun aber hat das Bun­des­ka­bi­nett zum tief grei­fen­den „di­gi­ta­len Wan­del“ ei­ne um­fas­sen­de „Di­gi­ta­le Agen­da“ be­schlos­sen: Die Gro­ße Koa­li­tion iden­ti­fi­ziert Hand­lungs­fel­der in Wirt­schaft, Wis­sen­schaft, Ge­sell­schaft und Po­li­tik. Kon­se­quent und so­zial­ver­träg­lich soll die „di­gi­tal ver­netz­te Welt“ er­schlos­sen werden.

Wegweiser

„Digitale Agenda 2014–2017“

Worte wie „Open Data“, „Smart Services“, „Industrie 4.0“ und „Cyber-Sicherheit“ hal­ten Ein­zug in un­se­re All­tags­spra­che. Sie be­schrei­ben ei­nen Wan­del, der mit der Di­gi­ta­li­sie­rung ein­her­geht und alle Le­bens­um­stän­de er­fasst hat. Die Bun­des­re­gie­rung be­greift die­sen Wan­del als Chance, will Wohl­stand, Le­bens­qua­li­tät und Zu­kunfts­fä­hig­keit si­chern. Da­zu ha­ben res­sort­über­grei­fend die drei in Netz­po­li­tik fe­der­füh­ren­den Mi­nis­te­rien ei­ne „Digitale Agenda 2014–2017“ er­ar­bei­tet: Das Bun­des­mi­nis­te­rium für Wirt­schaft und Ener­gie, das Bun­des­mi­nis­te­rium des In­nern und das Bun­des­mi­nis­te­rium für Ver­kehr und di­gi­ta­le In­fra­struk­tur iden­ti­fi­zie­ren so Hand­lungs­fel­der für die neue „Di­gi­tal­po­li­tik“ in Wirt­schaft und Gesellschaft.

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) zu­fol­ge ist die Agen­da we­der Sub­ven­tions­pro­gramm noch Maß­nah­men­pa­ket, viel­mehr eine „an­spruchs­vol­le Stra­te­gie“ und ein „Haus­auf­ga­ben­heft“, um den di­gi­ta­len Wan­del zu ge­stal­ten. Die­ser sei ne­ben Energie­wen­de und Fach­kräf­te­man­gel „die zen­tra­le Heraus­for­de­rung“: In der glo­ba­len di­gi­ta­len Öko­no­mie müs­se die Wett­be­werbs­fä­hig­keit der deut­schen Wirt­schaft er­hal­ten und aus­ge­baut werden.

Grundlage der Digitalisierung ist laut Agenda ein Turbo-Internet mit flä­chen­de­cken­der, leis­tungs­star­ker In­fra­struk­tur. Die­se er­mög­li­che In­no­va­tio­nen, nach­hal­ti­ges Wirt­schafts­wachs­tum und ge­sell­schaft­li­che Teil­ha­be. Die „po­si­ti­ve Wir­kung der Di­gi­ta­li­sie­rung“ sol­le von al­len ge­sell­schaft­li­chen Grup­pen an­ge­nom­men und ak­tiv mit­ge­stal­tet wer­den, Deutsch­land so zum „di­gi­ta­len Wachs­tums­land Nr. 1 in Eu­ro­pa“ auf­stei­gen. Die Ord­nung der So­zia­len Markt­wirt­schaft sol­le da­bei ge­schützt wer­den, das of­fe­ne und freie In­ter­net er­hal­ten blei­ben. Die öf­fent­li­che Ver­wal­tung er­le­be ei­ne „di­gi­ta­le Trans­for­ma­tion“. De­mo­kra­ti­sche Be­tei­li­gungs­mög­lich­kei­ten wür­den ver­bes­sert, Bür­ger­nä­he, Ser­vice­qua­li­tät und Wis­sens­ver­net­zung gestärkt.

Digitalisierung ist der Innovationsmotor,
der den In­dus­trie­stand­ort Deutsch­land stär­ken und zu­kunfts­fä­hig ma­chen wird
und gleich­zei­tig hilft, die tech­no­lo­gi­sche Sou­ve­rä­ni­tät Deutsch­lands aus­zu­bauen.
Sigmar Gabriel (SPD), Vize­kanz­ler der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und
Bun­des­mi­nis­ter für Wirt­schaft und Ener­gie im Ka­bi­nett Merkel III, 20. Au­gust 2014

Die Ansage, bürgerfreundliche E-Government-An­ge­bo­te der Län­der und Kom­mu­nen um­fas­send zu för­dern, un­ter­stützt die bis­he­ri­gen Schrit­te in die­se Rich­tung. Da­mit ist selbst die Stadt­rats­po­li­tik in Ro­sen­heim be­trof­fen. Hier sprach sich etwa der Fi­nanz- und Haupt­aus­schuss erst Mit­te Ju­li für „mehr Bür­ger­be­tei­li­gung“ über das Netz aus: Künf­tig kün­di­gen News­let­ter Sit­zun­gen an und nach Ge­neh­mi­gung der Nie­der­schrif­ten wer­den die­se un­ter Wah­rung da­ten­schutz­recht­li­cher Be­lan­ge auf die städ­ti­sche Web­site gestellt.

Wesentlicher Baustein der „Digitalen Agenda“ ist die Mo­der­ni­sie­rung der In­fra­struk­tur. Laut Bun­des­ver­kehrs­mi­nis­ter Alexander Dobrindt (CSU) sol­len mit Blick auf den „Da­ten-Tsu­na­mi“, al­so die stei­gen­de Flut an Da­ten, bis 2018 flä­chen­de­ckend Band­brei­ten von min­des­tens 50 Mbit/s ge­nutzt wer­den kön­nen. In länd­li­chen Re­gio­nen liegt der Aus­bau­grad heu­te teil­wei­se bei nur 20 Prozent.

„Überwachung“ ist ein „Kampfbegriff“

Ein Wort kennt die 40-seitige Agenda freilich nicht: „Überwachung“. Das Re­gie­rungs­pa­pier sei schließ­lich kein „Bil­der­buch für Ge­heim­diens­te“, er­klärt Ga­briel. Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Thomas de Maizière (CDU) zu­fol­ge tau­che der Be­griff des­we­gen nicht auf, „weil wir ihn auch nicht ver­wen­den“: Er sei schließ­lich ein „Kampf­be­griff, der in der Di­gi­ta­len Agen­da nichts zu su­chen hat“ und „nicht ver­wech­selt wer­den darf mit der ganz nor­ma­len Auf­ga­be, für Si­cher­heit zu sorgen“.

Dazu hat de Maizière einen gesonderten Entwurf für ein „IT-Si­cher­heits­ge­setz“ vor­ge­stellt. Das da­hin­ter ste­hen­de Be­dro­hungs­sze­na­rio: Deutsch­land sei zu­neh­mend Ziel pro­fes­sio­nel­ler ⭲ Cyber­an­grif­fe und Cyber­spio­na­ge. Des­halb müss­ten „kri­ti­sche In­fra­struk­tu­ren“ vor An­grif­fen aus dem Netz bes­ser ge­schützt wer­den. Eine ge­setz­li­che Mel­de­pflicht soll Cyber­at­ta­cken auf Ener­gie- und Tele­kom­mu­ni­ka­tions­net­ze, Ver­wal­tungs­be­hör­den, Ein­rich­tun­gen zur me­di­zi­ni­schen Ver­sor­gung, Was­ser­ver­sor­ger, Ver­kehrs­be­trie­be, Ban­ken, Bör­sen und Ver­si­che­run­gen aufdecken.

Vorfälle sollen anonym dem Bundesamt für Si­cher­heit in der In­for­ma­tions­tech­nik (BSI) an­ge­zeigt wer­den. Die­ses wer­tet die Mel­dun­gen aus, prüft sie auf An­griffs­mus­ter und warnt vor dro­hen­den Über­grif­fen. Die Zu­stän­dig­keit des Bun­des­kri­mi­nal­am­tes (BKA) wird auf be­stimm­te Cyber­de­lik­te aus­ge­wei­tet, die ak­tuell noch Län­der­sa­che sind. BSI, BKA, das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz (BfV) und das Bun­des­amt für Be­völ­ke­rungs­schutz und Ka­tas­tro­phen­hil­fe sol­len für ihre er­wei­ter­ten Auf­ga­ben mehr Per­so­nal und Geld erhalten.

Cyberattacken und Cybersabotage

Cyberattacken sind nicht auf die leich­te Schul­ter zu neh­men: Das Lahm­le­gen der kri­ti­schen In­fra­struk­tur Lett­lands in 2007 und des Atom­pro­gramms im Iran in 2010 sind nur zwei von vie­len Bei­spie­len, wie wir­kungs­voll Cyber­sa­bo­ta­ge sein kann. Wenn­gleich heu­te meist nur noch Fäl­le Auf­se­hen er­re­gen, in de­nen Hacker Mil­liar­den von Da­ten­sät­zen rau­ben, man­gelt es nicht an War­nun­gen an klei­ne und mit­tel­stän­di­sche Un­ter­neh­men. Sei es das Baye­ri­sche Lan­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz, der Ge­wer­be­ver­band Bayern des Bun­des der Selb­stän­di­gen oder die Ro­sen­hei­mer Ini­tia­ti­ve zur För­de­rung der In­for­ma­tions- und Kom­mu­ni­ka­tions­tech­nik: Sie alle mah­nen, dass der Mit­tel­stand zu­neh­mend Ziel von Cyber­at­tacken ist.

Der Bundesverband der Deut­schen In­dus­trie (BDI) so­wie der Bun­des­ver­band In­for­ma­tions­wirt­schaft, Te­le­kom­mu­ni­ka­tion und neue Medien (Bitkom) be­grüßen denn auch das ge­plan­te „IT-Si­cher­heits­ge­setz“, for­dern zu­gleich aber mehr Un­ter­stüt­zung für Mit­tel­ständ­ler bei der Ver­bes­se­rung ih­rer IT-Si­cher­heit.

Die Piratenpartei, gemeinhin als politische Be­we­gung der Netz­ge­mein­de ge­se­hen, kri­ti­siert hin­ge­gen das Ge­setz als „CARE-Pa­ket für die Si­cher­heits­be­hör­den“ und plä­diert für ei­ne zen­tra­le und trans­pa­ren­te Ver­öf­fent­li­chung der Cyber­at­ta­cken. Dies lehnt wie­de­rum die IT-Wirt­schaft ab, denn es bla­mie­re die an­ge­grif­fe­nen Un­ter­neh­men und sei ge­schäfts­schä­di­gend.

Die „Digitale Agenda“ findet sowohl Zu­stim­mung als auch Ab­leh­nung. So be­grüßt die „Deut­sche Con­tent Al­lianz (DCA)“ als Ver­tre­tung der Kul­tur- und Krea­tiv­wirt­schaft, Deutsch­land zu ei­nem „di­gi­ta­len Kul­tur­land“ wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Für Bünd­nis 90/DIE GRÜ­NEN hin­ge­gen ist die Agen­da ein „Sam­mel­su­rium längst be­kann­ter Po­si­tio­nen“. Die Bun­des­re­gie­rung ha­be we­der die Di­men­sion des an­hal­ten­den Da­ten­schutz- und Ge­heim­dienst­skan­dals noch die „Vor­tei­le ei­ner par­ti­zi­pa­ti­ven di­gi­ta­len Ge­sell­schafts­po­li­tik“ er­kannt, er­klä­ren der stell­ver­tre­ten­de Frak­tions­vor­sit­zen­de und Spre­cher für Netz­po­li­tik, Konstantin von Notz, und Tabea Rößner, Spre­che­rin für Me­dien und digitale Infrastruktur.

Der Zustandsbeschreibung der Agenda stimmt wie­de­rum die Pi­ra­ten­par­tei zu. Ähn­lich wie Bitkom kri­ti­siert sie je­doch, die Agen­da ent­hal­te zu vie­le Ge­mein­plät­ze und kaum Hand­lungs­vor­schlä­ge da­für, dass die Di­gi­ta­li­sie­rung weit fort­ge­schrit­ten sei. Wäh­rend Bitkom im Vor­feld schon Maß­nah­men zum Breit­band­aus­bau und die Un­ter­stüt­zung von Start-ups ver­lang­te, se­hen die PIRATEN im Re­gie­rungs­pa­pier le­dig­lich ei­ne „Wirt­schafts­agen­da“ und for­dern ähn­lich wie die Bünd­nis­grü­nen mehr Be­tei­li­gung der „Netz­bür­ger“ an der Di­gi­ta­len Ge­sell­schaft. 


Erstveröffentlichung

Print: Ro­sen­hei­mer blick, Inn­ta­ler blick, Mang­fall­ta­ler blick, Was­ser­bur­ger blick, 27. Jg., Nr. 34/2014, Sams­tag, 23. Au­gust 2014, S. 1/6, Ko­lum­ne „Leit­ar­ti­kel“ [187/5/1/6]; Inn-Salz­ach blick, 7. Jg., Nr. 34/2014, Sams­tag, 23. Au­gust 2014, S. 1/3, Ko­lum­ne „Leit­ar­ti­kel“ [165/5/1/6].
Online: ⤉ blick-punkt.com, Don­ners­tag, 21. Au­gust 2014; ⤉ E-Paper Ro­sen­hei­mer blick, ⤉ E-Paper Inn­ta­ler blick, ⤉ E-Paper Mang­fall­ta­ler blick, ⤉ E-Paper Was­ser­bur­ger blick, ⤉ E-Paper Inn-Salz­ach blick, Sams­tag, 23. Au­gust 2014. Stand: Neu­jahr, 1. Ja­nu­ar 2024.
 

Dr. Olaf Konstantin Krueger M.A.

Digitaljournalist – Digitalpolitiker