Kann der Mindestlohn umgangen werden?
Dokumentationspflicht wird heftig diskutiert

Rosenheim — Aus der Wirtschaft kommen widersprüchliche Signale: Ei­ni­ge Un­ter­neh­men ha­ben mit der ers­ten ein­heit­li­chen Lohn­un­ter­gren­ze in Deutsch­land kein Pro­blem, an­de­re sto­ßen sich vor al­lem an den um­fas­sen­den Auf­zeich­nungs- und Nach­weis­pflich­ten, die gro­ßen Auf­wand und Kos­ten verursachten.

Seit Jahresbeginn gilt in Deutschland ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn in Hö­he von 8,50 Eu­ro pro Stun­de. Da­mit ha­ben 21 der 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) Mindestlöhne, also fest­ge­schrie­be­ne Ar­beits­ent­gel­te, die Be­schäf­tig­ten als Stun­den­lohn oder mo­nat­li­ches Ent­gelt min­des­tens zu­ste­hen. Min­dest­löh­ne sollen ein angemessenes Einkommensniveau festsetzen und ei­nen Unterbietungswettbewerb verhindern. Gelassen äußern sich darüber all jene, die schon vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes mehr als den festgelegten Mindestlohn be­zahl­ten. Für das Handwerk etwa sieht Norbert Hauer, Zen­tral­lei­ter der Ge­sel­len­ver­ei­ni­gung Rolandschacht, „kein Problem“. Die ge­werk­schaft­lich or­ga­ni­sier­ten Wan­der­ge­sel­len er­hiel­ten ohne­hin mehr als den Mindestlohn.

Kritik an der Dokumentationspflicht

Geht es jedoch um Details wie die Dokumentationspflicht, wird der Ton rau: „Die Be­las­tung für die Un­ter­neh­men ist extrem und wird durch die Un­si­cher­heit in vie­len Ver­fah­rens­fra­gen noch ver­stärkt“, er­klärt Andreas Bensegger, stell­ver­tre­ten­der Vor­sit­zen­der des IHK-Gre­miums Rosenheim, das die In­ter­es­sen von mehr als 23.300 Un­ter­neh­men in der kreisfreien Stadt und dem Landkreis vertritt.

Tagesgenaue Aufzeichnungen über die Arbeitszeiten von Aushilfen und 450-Euro-Kräf­ten müs­sen selbst je­ne Un­ter­neh­men füh­ren, die mehr als den Min­dest­lohn zah­len. Auch für kurz­fris­ti­ge Aus­hil­fen muss die täg­li­che Ar­beits­zeit er­fasst und je­der Stun­den­zet­tel zwei Jah­re ar­chi­viert wer­den. In der Gas­tro­no­mie und im Spe­di­tions­ge­wer­be gilt das für al­le Ar­beit­neh­mer un­ter der Ver­dienst­gren­ze von 2.958 Eu­ro im Mo­nat. Bens­eg­ger un­ter­streicht des­halb, für die hei­mi­schen Be­trie­be sei das Ge­setz „ein wei­te­res Sig­nal, dass un­ter­neh­me­ri­sches En­ga­ge­ment in Deutsch­land nicht ge­för­dert, son­dern be­hin­dert wird“.

Man kann natürlich jetzt alles, was das Arbeitsministerium tut, als bürokratische Belastung bezeichnen – das scheint ja gut in die Zeit zu passen. Man kann darin aber auch einfach weiter ein Zeichen sehen, dass wir den Arbeitsschutz
und die Gesundheit der Beschäftigten in Deutschland ernstnehmen.
Andrea Nahles (SPD), Bun­des­mi­nis­te­rin für Ar­beit und So­zia­les im Ka­bi­nett Merkel III

Für solche Klagen zeigt der SPD-Bundestagsabgeordnete Gerold Reichenbach aus dem hessischen Groß-Gerau aber kein Ver­ständ­nis. Das Bun­des­ar­beits- und So­zial­mi­nis­te­rium ha­be mit Rück­sicht auf Ar­beit­ge­ber und Ar­beit­neh­mer be­wusst we­ni­ge Vor­ga­ben für die Do­ku­men­ta­tion ge­macht. „Ent­we­der wur­de die Ar­beits­zeit bis­her gar nicht do­ku­men­tiert oder Ar­beit­ge­ber ver­su­chen, sich vor dem Min­dest­lohn zu drü­cken“, arg­wöhnt Rei­chen­bach. Wich­tig sei nur, Be­ginn, Dauer und En­de der Ar­beits­zeit in­ner­halb ei­ner Wo­che hand­schrift­lich festzuhalten.

„Mit Bürokratie-Abbau lässt sich in Deutschland fast alles recht­fer­ti­gen“, warnt zu­dem DGB-Vor­stands­mit­glied Stefan Körzel. Die Do­ku­men­ta­tions­pflicht sei Grund­la­ge da­für, dass der Min­dest­lohn tat­säch­lich ge­zahlt wer­de. Minijobber müss­ten näm­lich „da­rauf ver­trauen kön­nen, dass der Min­dest­lohn kein lee­res Ver­spre­chen ist“, be­tont Körzel.

Kritik an der Generalunternehmerhaftung

Doch in Rosenheim beklagen sich IHK-Gremiumsmitglieder auch über die Generalunternehmerhaftung. Da­mit haf­ten Auf­trag­ge­ber da­für, dass Sub­un­ter­neh­mer, bei­spiels­wei­se Rei­ni­gungs­diens­te, den Min­dest­lohn be­zah­len. Wie ein Un­ter­neh­men das si­cher­stel­len kann, wird im Ge­setz je­doch nicht er­klärt. Das Risiko las­se sich we­der durch ei­ne schrift­li­che Be­stä­ti­gung auf den Auf­trag­neh­mer ab­wäl­zen, noch kön­ne der Auf­trag­ge­ber Ein­blick in die Lohn­kal­ku­la­tion for­dern. So sei aber zu be­fürch­ten, dass „schwarze Schafe“ wei­ter­hin ei­nen Weg fän­den, die Ge­set­ze zu umgehen. 


Erstveröffentlichung

Print: Ro­sen­hei­mer blick, Inn­ta­ler blick, Mang­fall­ta­ler blick, Was­ser­bur­ger blick, 28. Jg., Nr. 7/2015, Sams­tag, 14. Fe­bru­ar 2015, S. 1f., Ko­lum­ne „Leit­ar­ti­kel“; Inn-Salz­ach blick, 8. Jg., Nr. 7/2015, Sams­tag, 14. Fe­bru­ar 2015, S. 1f., Ko­lum­ne „Leit­ar­ti­kel“ [119/3/1/1].
Online: ⤉ blick-punkt.com, Diens­tag, 10. Fe­bru­ar 2015; ⤉ E-Paper Ro­sen­hei­mer blick, ⤉ E-Paper Inn­ta­ler blick, ⤉ E-Paper Mang­fall­ta­ler blick, ⤉ E-Paper Was­ser­bur­ger blick, ⤉ E-Paper Inn-Salz­ach blick, Sams­tag, 14. Fe­bru­ar 2015. Stand: Neu­jahr, 1. Ja­nu­ar 2025.
 

Dr. Olaf Konstantin Krueger M.A.

Digitaljournalist – Digitalpolitiker